Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
war? Seine ganze Theorie über die Urkundenfälschung
basierte auf Indizien. Und er lehnte es ab, eine Verhaftung
vorzunehmen, auf die dann keine Mordanklage folgte. Wenn der Fall baden
ging, blieb an dem Beschuldigten immer ein Hauch des Verdachts haften,
und der ermittelnde Beamte geriet leicht in den Ruf, unklug und
vorschnell zu handeln. Sollte dies einer jener zutiefst
unbefriedigenden Fälle werden – und davon gab es nicht
wenige –, in denen die Identität eines Mörders bekannt war,
die Beweise jedoch für eine Verhaftung nicht ausreichten?
Schließlich akzeptierte er die Tatsache, dass er keine
Aussicht auf Schlaf hatte. Er stieg wieder aus dem Bett, zog sich eine
Hose und einen dicken Pullover an und schlang sich einen Schal um den
Hals. Vielleicht würde ihn ein flotter Spaziergang müde genug machen,
dass es sich lohnte, wieder ins Bett zu gehen.
Um Mitternacht hatte es kurz, aber heftig geregnet. Die Luft
roch süß und frisch, aber es war nicht sehr kalt. Der Himmel war mit
Sternen gesprenkelt, und als er losging, hörte er nichts als seine
eigenen Schritte. Doch dann spürte er Wind aufkommen, wie eine dunkle
Vorahnung. Die Nacht wurde lebendig. Der Wind fuhr durch die kahlen
Hecken und ließ die hohen Äste der Bäume ächzen, nur um nach dem kurzen
Tumult so schnell wieder einzuschlafen, wie er aufgekommen war. Als
Dalgliesh auf das Manor zuging, sah er in der Ferne Flammen lodern. Wer
machte denn um drei Uhr morgens ein Lagerfeuer? Im Steinkreis brannte
etwas. Er nahm sein Handy aus der Tasche und rief Kate und Benton
herbei, während er mit klopfendem Herzen auf das Feuer zurannte.
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S ie wollte es nicht riskieren, den Wecker
auf zwei Uhr dreißig zu stellen. Selbst wenn sie ihn sofort
ausschaltete, könnte jemand aus dem Schlaf gerissen werden. Aber wozu
brauchte sie einen Wecker? Seit Jahren gelang es ihr, allein kraft
ihres Willens aufzuwachen. Genauso konnte sie derartig überzeugend
vortäuschen zu schlafen, dass sie ganz flach atmete und selbst kaum
wusste, ob sie wach war oder schlief. Zwei Uhr dreißig war eine gute
Zeit. Um Mitternacht war die Hexenstunde, die mächtige Stunde der
Mysterien und geheimen Zeremonien. Doch die Welt schlief nicht mehr um
Mitternacht. Wenn Mr. Chandler-Powell keine Ruhe fand, konnte es
durchaus sein, dass er um zwölf Uhr noch in die Nacht hinausging. Aber
um halb drei würde er nicht mehr unterwegs sein, und auch die ersten
Frühaufsteher wären noch nicht wach. Mary Keyte war am 20. Dezember um
drei Uhr nachmittags verbrannt worden, aber am Nachmittag konnte sie
ihr Sühneritual nicht vollziehen, das endgültige Verschmelzen mit Mary
Keyte, das deren gepeinigte Stimme für immer verstummen lassen und ihr
Frieden schenken würde. Drei Uhr morgens musste genügen. Mary Keyte
würde das verstehen. Es kam einfach darauf an, ihr noch ein letztes Mal
Anerkennung zu zollen, diese schrecklichen tödlichen Minuten
nachzustellen, so wirklichkeitsgetreu, wie sie es nur wagte. Der 20.
Dezember war nicht nur der richtige Tag, sondern wahrscheinlich auch
ihre letzte Chance. Es könnte gut sein, dass Mrs. Rayner sie morgen
schon abholte. Sie wollte weg von hier, hatte es satt, ständig
herumkommandiert zu werden, als wäre sie die unwichtigste Person im
ganzen Manor, wo sie doch eigentlich die größte Macht hatte, wenn die
anderen es nur wüssten. Aber bald würde es mit der Unterwürfigkeit ein
Ende haben. Sie würde reich sein, und andere würden dafür bezahlt
werden, sich um sie zu kümmern. Doch zuerst stand noch dieser
endgültige Abschied aus, das letzte Mal, dass sie mit Mary Keyte sprach.
Es war gut, dass sie alles schon so lange im Voraus geplant
hatte. Nach Robin Boytons Tod hatte die Polizei die beiden Cottages
versiegelt. Auch nach Einbruch der Dunkelheit wäre es riskant, dorthin
zu gehen. Das Manor zu verlassen, ohne dass die Leute vom Wachdienst es
bemerkten, war zu keiner Zeit möglich. Aber sie hatte bereits damals
gehandelt, als Miss Cressett ihr mitgeteilt hatte, dass ein Gast ins
Rose Cottage einziehen würde, am selben Tag, an dem Miss Gradwyn zu
ihrer Operation anreiste. Es gehörte zu ihren Aufgaben, vor der Ankunft
eines Gastes zu saugen und die Böden zu putzen, Staub zu wischen, die
Möbel zu polieren und das Bett zu machen. Alles hatte sich gefügt.
Alles war so bestimmt. Sie hatte sogar einen Rollkorb für die saubere
Wäsche und zum Transport der schmutzigen Bettwäsche und Handtücher zum
Waschen, der Seife für Dusche und
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