Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
Stöckchen. Sie stellte fest, dass sie zu
verschwenderisch mit dem Petroleum umgegangen war, daher war sie mit
dem zweiten Kanister sparsamer. Sie wollte endlich das Feuer anzünden.
Das Anschürholz war bereits so gut durchtränkt, dass sie nur die Hälfte
des Petroleums brauchte.
Mit der Wäscheleine band sie sich am Mittelstein fest. Das war
schwieriger als erwartet, aber schließlich kam sie darauf, dass es am
besten ging, wenn sie die Leine in einer doppelten Schlinge um den
Stein legte, dann hineintrat, die Leine an sich hochzog und festzurrte.
Es war gut, dass der Mittelstein, ihr Altar, höher, aber glatter und
schmaler war als die anderen Steine. Sie schnürte sich die Leine vor
dem Bauch zusammen, die langen Enden hingen lose herunter. Schließlich
nahm sie die Streichhölzer aus der Tasche, stellte sich einen Moment
starr hin und schloss die Augen. Ein Windstoß kam auf, legte sich
wieder. Dann sprach sie zu Mary Keyte: »Das ist für dich. Zu deinem
Gedenken. Ich weiß, dass du unschuldig warst. Sie holen mich weg von
dir. Ich komme dich heute zum letzten Mal besuchen. Sprich zu mir.«
Aber in dieser Nacht antwortete ihr niemand.
Sie riss das Streichholz an und warf es auf den Holzkreis,
aber der Wind blies die Flamme aus, sobald sie entzündet war. Mit
zitternden Händen versuchte sie es immer wieder. Sie stand kurz davor,
in Tränen auszubrechen. Es funktionierte nicht. Sie würde näher an den
Kreis herangehen, zurück zum Opferstein laufen und sich noch einmal
festbinden müssen. Aber angenommen, das Feuer brannte auch dann nicht?
Als sie zur Allee hinüberblickte, wurden die Stämme der Linden immer
dicker und wuchsen zusammen; die obersten Äste verflochten sich
ineinander und zerteilten den Mond. Der Weg verengte sich zu einer
Höhle, und der Westflügel, der als Schatten in der Ferne erkennbar
gewesen war, verschwand in der tiefer werdenden Finsternis.
Und jetzt hörte sie die Dorfbewohner kommen. Sie drängten sich
durch die schmaler gewordene Lindenallee, ihre fernen Stimmen erhoben
sich zu lauten Rufen, die ihr in den Ohren hämmerten. Verbrennt
die Hexe! Verbrennt die Hexe! Sie hat unser Vieh getötet. Sie hat
unsere Kinder vergiftet. Sie hat Lucy Beale ermordet. Verbrennt sie!
Verbrennt sie! Sie hatten die Mauer erreicht. Aber sie
kletterten nicht darüber. Sie drängten sich dagegen, es wurden immer
mehr, offene Münder wie eine Reihe von Totenköpfen, die ihr ihren Hass
entgegenbrüllten.
Urplötzlich verstummten die Schreie. Eine Gestalt löste sich
aus der Menge, stieg über die Mauer und kam auf sie zugelaufen. Eine
bekannte Stimme sagte freundlich und ein wenig vorwurfsvoll: »Wie
kommst du nur auf die Idee, ich würde dich das alleine machen lassen?
Ich wusste doch, du lässt sie nicht im Stich. Aber so wie du das
machst, funktioniert es nicht. Ich helfe dir. Lass mich dein
Scharfrichter sein.«
So hatte sie das nicht geplant. Diese Zeremonie hatte sie
selbst durchführen wollen, und zwar ganz allein. Aber es konnte nicht
schaden, einen Zeugen zu haben, und das hier war immerhin ein
besonderer Zeuge, jemand, der sie verstand, jemand, dem sie vertrauen
konnte. Sie wusste jetzt um das Geheimnis eines anderen Menschen, das
verlieh ihr Macht und würde sie reich machen. Vielleicht war es
richtig, dass sie zusammen waren. Der Scharfrichter suchte einen
schmalen Kienspan heraus, brachte ihn herbei, schützte ihn vor dem Wind
und zündete ihn an, hielt ihn hoch, ging damit zum Kreis und warf ihn
auf das Holz. Sofort loderten Flammen auf, und das Feuer lief wie ein
lebendes Wesen herum, brutzelte, knisterte und schlug Funken. Die Nacht
wurde lebendig, und die Stimmen auf der anderen Seite der Mauer
schwollen an zu einem Crescendo. Sie erlebte einen Augenblick des
absoluten Triumphs, als würde die Vergangenheit endgültig verbrannt,
ihre und auch die von Mary Keyte.
Der Scharfrichter kam näher. Warum, fragte sie sich, waren
seine Hände so hellrosa, so durchscheinend? Warum die
Operationshandschuhe? Und schon packten diese Hände die losen Enden der
Wäscheleine und schlangen sie ihr mit einer schnellen Bewegung um den
Hals. Die Schlinge wurde fester gezurrt. Dann spritzte ihr etwas Kaltes
ins Gesicht. Irgendetwas wurde über sie geworfen. Es roch immer stärker
nach Petroleum, der Rauch erstickte sie. Der heiße Atem des
Scharfrichters wehte ihr ins Gesicht, und die Augen, die ihr
entgegenstarrten, sahen aus wie geäderte Murmeln. Die Iriden schienen
zu wachsen, bis kein Gesicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher