Adam Dalgliesh 14: Ein makelloser Tod
Candace gehen«, erklärte der Anwalt. »Wenn Sie die
Handschrift beider Testamente vergleichen, kommen Sie sicherlich zu dem
Schluss, dass es sich um denselben Verfasser handelt.«
Wie bei dem späteren Testament war auch hier die schwarze
Schrift markant und überraschend kräftig für einen alten Mann. Es waren
langgezogene Buchstaben mit schweren Abstrichen und dünnen
Aufwärtslinien. »Kann ich davon ausgehen, dass weder Sie noch ein
Mitarbeiter Ihrer Kanzlei Robin Boyton über seinen zu erwartenden
Reichtum informiert haben?«, fragte Dalgliesh.
»Das wäre wahrlich unprofessionell gewesen. Soweit ich weiß,
hatte er weder Kenntnis davon, noch hatte er sich danach erkundigt.«
»Und selbst wenn er es gewusst hätte«, meinte Dalgliesh, »er
hätte das spätere Testament nicht mehr anfechten können, nachdem es
bereits vollstreckt war.«
»Und Sie sicherlich auch nicht, Commander.« Nach einer kurzen
Pause fuhr er fort. »Ich habe Ihnen auf Ihre Fragen geantwortet, nun
muss ich Ihnen eine stellen. Sind Sie absolut überzeugt davon, dass
Candace Westhall sowohl Robin Boyton als auch Rhoda Gradwyn ermordet
hat und dass sie versucht hat, Sharon Bateman zu ermorden?«
»Ein Ja zum ersten Teil Ihrer Frage«, sagte Dalgliesh. »Ich
glaube dem Geständnis nicht in allen Punkten, aber in einer Hinsicht
ist es wahr. Sie hat Miss Gradwyn umgebracht, und sie war
verantwortlich für den Tod von Robin Boyton. Sie hat gestanden, den
Mord an Sharon Bateman geplant zu haben. Damals musste sie bereits
vorgehabt haben, Selbstmord zu begehen. Nachdem sie einmal Verdacht
geschöpft hatte, dass ich die Wahrheit über das letzte Testament kennen
könnte, durfte sie kein Kreuzverhör vor Gericht riskieren.«
»Die Wahrheit über das letzte Testament. Ich habe mir schon
gedacht, dass wir darauf zu sprechen kommen würden. Aber kennen Sie
denn die Wahrheit? Und selbst wenn, würde sie auch vor Gericht
standhalten? Angenommen, Candace wäre noch am Leben und man könnte sie
der Fälschung der Unterschriften ihres Vaters und der beiden Zeuginnen
überführen, so gäbe es doch beträchtliche juristische Komplikationen
wegen des Testaments, weil Boyton tot ist. Welch ein Jammer, dass ich
nicht einige davon mit meinen Kollegen durchdiskutieren kann!«
Zum ersten Mal, seit Dalgliesh den Raum betreten hatte, wirkte
er beinahe lebhaft. »Und was hätten Sie unter Eid ausgesagt?«, fragte
ihn Dalgliesh.
»Über das Testament? Dass ich es als gültig betrachtete und
keine Zweifel hinsichtlich der Unterschriften hätte, weder des
Erblassers noch der Zeugen. Vergleichen Sie doch die Handschrift der
beiden Testamente. Kann es einen Zweifel daran geben, dass sie vom
selben Menschen stammen? Es gibt nichts, was Sie tun könnten,
Commander, und das müssen Sie auch nicht. Dieses Testament hätte
allenfalls Robin Boyton anfechten können, und Boyton ist tot. Weder Sie
noch die Metropolitan Police haben einen locus standi in dieser Angelegenheit. Sie haben Ihr Geständnis. Sie haben
Ihre Mörderin. Der Fall ist abgeschlossen. Das Geld wurde den beiden
Menschen vermacht, die den größten Anspruch darauf hatten.«
»In Anbetracht des Geständnisses gebe ich zu, dass nichts mehr
getan werden kann«, gab Dalgliesh zu. »Aber ich mag keine unerledigten
Angelegenheiten. Ich musste wissen, ob ich recht hatte, und ich wollte
es, wenn möglich, verstehen. Sie haben mir sehr geholfen. Nun kenne ich
die Wahrheit, soweit man sie kennen kann, und ich glaube zu verstehen,
weshalb sie es getan hat. Oder ist es zu anmaßend, das behaupten zu
wollen?«
»Die Wahrheit zu kennen und zu verstehen? Ja, Commander, bei
allem Respekt, ich glaube schon. Es ist anmaßend und vielleicht sogar
dreist. Wir picken im Leben verblichener Berühmtheiten herum wie
gackernde Hühner, die sich auf jedes Körnchen Klatsch und Skandal
stürzen. Und nun möchte ich Ihnen eine Frage stellen. Würden Sie das
Gesetz brechen, wenn Sie damit ein Unrecht wiedergutmachen oder einem
Menschen nützen könnten, den Sie lieben?«
Dalgliesh antwortete: »Ich mache Ausflüchte, aber die Frage
ist hypothetisch. Es hängt immer davon ab, wie wichtig und sinnvoll das
Gesetz ist, das ich breche, und ob das Gute, das ich diesem
hypothetischen geliebten Menschen tue, oder gar der Nutzen für das
öffentliche Wohl meiner Meinung nach größer wäre als der Schaden, der
durch den Gesetzesbruch entsteht. Bei bestimmten Straftaten –
Mord und Vergewaltigung zum Beispiel – kann das niemals der
Fall
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