Adams Erbe (German Edition)
er.
»Ich meine, in deinem Kopf.«
»Nichts.« Er zog die Schultern hoch. »Siehst du was in deinem Kopf?«
»Ja. Das Mädchen mit den traurigsten Augen der Welt und einen Dachboden in Berlin.«
Herakles blieb stehen, stampfte mit seinen Beinen auf und lachte, so wie nur er lachen kann. »Du bist verrückt«, kreischte er, »du bist wirklich verrückt.«
»Vielleicht ein bisschen«, sagte ich und nahm ihn an der Hand.
Wer sich in diesem Winter allerdings wirklich verrückt gebärdete, war der gute August. An einem Dezembertag erklärte er Amerika den Krieg.
Menden lag wie üblich in seinem Bett und übersetzte für den Judenrat Dokumente. So verdiente er sein Geld. Man nahm Rücksicht auf den Professor, der unter schwerem Rheuma litt, und erlaubte ihm, seine Arbeit von zu Hause aus zu erledigen. Diese Vorzugsbehandlung verdankte er einem seiner ehemaligen Studenten, der eine wichtige Position im Ghetto innehatte.
Menden und ich waren allein in der Dreizimmerwohnung. Schnaufend legte er seine Unterlagen beiseite, und ein seltsamer Glanz überzog seine Pupillen, als er unsere Tassen mit Schnaps füllte. »Hitler kann diesen Krieg nicht gewinnen. Er muss wahnsinnig sein… Amerika?! Das ist keine Taktik, das ist Verzweiflung. Heute, Adam, glaube ich zum ersten Mal, dass wir hier lebend rauskommen könnten. Dass es ein Ende geben wird«, sagte er feierlich.
Ich ließ mich von Mendens Euphorie anstecken. Obwohl ich niemals davon ausgegangen bin, hier zu sterben, Anna.
Frau Blemmer hatte kein Verständnis für das Hochgefühl, das in zwei von drei Zimmern herrschte, und ihre hebräischen Flüche klangen noch ein wenig bedrohlicher als sonst.
Bevor der Dezember zu Ende ging, brach eine Eiseskälte, die nichts mit Wind und Wetter zu tun hatte, in unser Warschauer Wohnloch herein.
Wie jeden Tag zog Herakles auch an diesem 28. Dezember durch das Ghetto. Normalerweise kündigten ein lautes Stampfen und das unverkennbare Gelächter seine Rückkehr an. Denn auf dem Weg nach oben erheiterte ihn immer irgendetwas. Er war da nicht besonders wählerisch. Schon eine dreibeinige Ratte ließ seinen Kopf in den Nacken fliegen. Dann öffnete er lachend die Tür, meist mit so viel Schwung, dass sie gegen die Wand knallte.
An diesem Tag blieb die Fanfare aus. Vollkommen unerwartet stand er in Mendens Zimmer. Herakles war nackt. Schmutz und blutige Striemen waren das Einzige, was seinen bibbernden Körper bedeckte.
Die grünen Augen starrten mich an. Stumm hielt er seine kleine Hand hoch, an der sein kleiner Finger fehlte.
»Herakles, was hast du jetzt schon wieder angestellt?«, sagte der Professor, und die Nilpferddame stöhnte.
Mein Freund, denn Herakles war mein Freund, reagierte nicht. Er sah nur mich an. Als ob ich etwas ändern könnte, als ob ich ihm seinen Finger zurückgeben könnte.
Im Erdgeschoss wohnte ein Arzt, ich rannte hinunter. Eine Stunde später prangten 27 Stiche dort, wo einmal ein Finger lebte. Ich wickelte das Kind in einen meiner Pullover und zog ihm dicke Socken an. Er sagte kein Wort, nahm die Puppe, die neben dem Ofen auf ihn gewartet hatte, und verkroch sich in seinen Schrank.
»Immer Ärger mit dem Jingl«, sagte Frau Blemmer kopfschüttelnd, und zum ersten Mal schienen der Professor und Abrahams Máme einer Meinung zu sein.
»Ja, immer Ärger«, bestätigte Menden.
Ich hockte mich neben den Schrank und klopfte vorsichtig.
»Herakles, was ist passiert?«
Aber er antwortete nicht.
Als ich meine Frage zum achten Mal wiederholt hatte, raunte Frau Blemmer mir zu: »Hören Sie mit dem Geklopfe auf, Adam. Was ist passiert? Was ist passiert? Herakles ist ein Dieb, da lebt man gefährlich, und das weiß er auch.«
Herakles saß mittlerweile seit drei Tagen in seiner Höhle, ohne einen Ton gesagt zu haben. Ich stellte ihm sein Essen immer vor die Schranktür. Dann öffnete er blitzschnell und griff nach dem Teller.
Ich verbrachte viele Stunden vor dem Schrank und redete auf das Kind ein, was der Professor mit einer Folge entnervter Seufzer kommentierte. »Er wird schon rauskommen, wenn er sich wieder beruhigt hat.«
Es war der 31. Dezember, Menden und Frau Blemmer schliefen bereits.
»Herakles«, sagte ich leise, um Menden nicht aufzuwecken, »gleich hast du Geburtstag.«
Und tatsächlich, mit einem Knarren ging die Tür auf. Ich zwängte mich zu ihm hinein. Es war eng und warm, und meine Augen brauchten eine Weile, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Herakles’ grüne Augen
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