Adams Erbe (German Edition)
könnten hier raus…«
»Ist das die Frage?«
Ich nickte. Frau Blemmer starrte an die Decke, seufzte und setzte sich schließlich wieder.
»Also gut… In Polen bemühte sich mein Vater, wie die Polen zu sein. Er sprach ihre Sprache, ließ seine ganze Familie taufen, aber das reichte nicht. Sie stachen ihm ein Auge aus… mit einem vernagelten Brett. Er überlebte, und wir gingen nach Österreich. In Wien bemühten wir uns, wie die Österreicher zu sein. Wir lernten ihre Sprache, übernahmen ihre Bräuche und gingen jeden Sonntag nach der Messe im Prater spazieren. Vater arbeitete wie ein Besessener, verdiente viel Geld, war großzügig und freundlich zu jedermann. Und doch hörten sie niemals auf, dem einäugigen, polnischen, katholisch getauften Juden zu misstrauen. Dann der Anschluss. Und wie sich die Österreicher anschlossen!«
Die Deutschen kamen, Ruths alter Vater kaufte eine Bismarckbüste, die einen Ehrenplatz auf dem Klavier erhielt. »Aber das reichte nicht.« Sie sperrten ihn ein und prügelten ihn zu Tode. Ruths Mutter sprang aus dem Fenster, als sie erfuhr, dass er nie mehr nach Hause kommen würde.
Ruth, ihr Mann und ihr erwachsener Sohn wurden nach Warschau abgeschoben. Ihr Mann erkrankte und starb.
Ein reicher polnischer Jude nahm sie und Abraham bei sich auf. Sie lernte Hebräisch und betete jeden Tag, aber es reichte nicht.
Kurz bevor die Deutschen anrückten, erlitt der fromme Mann einen Herzinfarkt. Er vererbte Frau Blemmer sein gesamtes Vermögen, das ihr Sohn sofort an sich riss.
»Dann errichteten die Deutschen dieses Ghetto. Und endlich muss ich mich nicht mehr bemühen, vergeblich bemühen, zu gefallen. Von hier will mich niemand mehr vertreiben. Hier kann ich in Ruhe sterben.«
»Und Gott?«
»Gott ist mein Feind.«
»Ich dachte, er prüft Sie?«
»Ja, das tut er. Freunde prüfen einen nicht.«
Ehe ich noch etwas sagen oder fragen konnte, war Frau Blemmer schon wieder in ihren Nilpferdpanzer geschlüpft und schubste mich fast vom Stuhl.
»Jetzt kommen Sie schon, und vergessen Sie nicht die verschrotteten Schuhe da. Wie ein Trottel haben Sie sich über den Tisch ziehen lassen. Wie ein Trottel…«
Herakles stapfte mit seinen neuen Stiefeln durch die Wohnung und lachte, bis er fast keine Luft mehr bekam.
Am nächsten Morgen brach ich einen der verdorrten Rosenstiele ab und nähte das Stöckchen zusammen mit ein paar Stoffresten in die schwarzen Wollhandschuhe ein. Ein kleiner Finger aus Rosenholz und grauem Leinen.
»Professor, schauen Sie«, rief das Kind und hielt Menden seine behandschuhte Pfote unter die Nase. »Er hat mir einen Finger gemacht.«
Der Professor sah von seinem Buch auf, strich über die schwarze Kinderhand und lächelte. »Adam spielt jetzt Gott. Eine große Rolle, mein lieber Freund.«
»Was wissen Sie schon von Gott, Professor?«, sagte Frau Blemmer.
»Natürlich nichts. Verzeihung, Verzeihung.«
Und während Menden und Abrahams Máme eisige Blicke tauschten, lief Herakles zur Tür. Er drehte sich noch einmal um, winkte mit der reparierten Hand und wäre fast mit Rafal zusammengestoßen.
Ich habe das Entsetzen in Herakles’ Augen gesehen.
»Wie geht es dir?«, rief der Polizist dem Kind hinterher. Aber das Klappern der neuen Stiefel auf der Treppe war die einzige Antwort, die er bekam.
Frau Blemmers Verachtung, die eben noch dem Professor gegolten hatte, verlagerte augenblicklich ihr Ziel.
»Haben Sie Herakles den Finger abgeschlagen, Rafal?« Sie konnte fragen, wie andere nur ohrfeigen können.
»Frau Blemmer! Natürlich nicht.« Empörung – oder war es Angst? – färbte seine Wangen.
»Nein?« Sie lachte.
»Nein. Nein. Als ich dazukam, war es schon geschehen. Ich…«
»Sie haben es gesehen, und Sie haben den Jungen nackt nach Hause gehen lassen?«
»Er ist weggelaufen.«
Sie griff nach ihrem Mantel. »Rafal, ich kann Ihren Anblick einfach nicht ertragen.«
Der Polizist sackte zusammen, er setzte sich auf den Boden.
»Die Deutschen haben ihn beim Stehlen erwischt. Als ich ankam… Ich habe gesagt, sie sollen ihn gehenlassen. Es reicht, habe ich gerufen… Es reicht, genug…«
»Haben Sie das?«, fragte der Professor sanft.
»Ja. Ja… Ich glaube… Ich weiß es nicht. Ich wollte…« Rafal schlug die Hände vors Gesicht. »Sie müssen besser auf Herakles aufpassen. Sie müssen wirklich besser auf ihn aufpassen.«
Der Polizist rappelte sich hoch und zog ein paar Geldscheine aus seiner Tasche. »Von Abraham, können Sie es ihr
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