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Adieu, Sir Merivel

Adieu, Sir Merivel

Titel: Adieu, Sir Merivel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Tremain
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sich eine entsetzliche Szene. James Pearse, der Leibarzt des Königs, hatte entschieden, es müsse noch Blut aus der Halsader Seiner Majestät entnommen werden. Und nun versuchte er, das geschärfte Skalpell bereits in der rechten Hand, mit der linken die Halsvene zu finden , indem er den Hals des Königs in alle Richtungen quetschte und presste und drückte, offenbar ohne zu merken, dass seinPatient, dessen Augen schon aus dem Schädel traten, langsam erdrosselt wurde.
    »Ich finde sie nicht!«, rief Pearse gereizt und stach und drückte noch härter. »Da ist keine Vene!«
    Die anderen Doctores, die derweil mit Spanischer Fliege und Zugpflastern arbeiteten und Blutegel in die Wunde am Bein des Königs setzten und ihm erneut den Enema-Schlauch einführten, starrten den Leibarzt hilflos an.
    »Himmelherrgott!«, brüllte Pearse. »Steht nicht herum wie das blöde Vieh! Einer muss mir helfen, die Halsvene zu finden!«
    Keiner rührte sich, woraufhin ich, der ich neben Pearse stand, ruhig sagte: »Ihr erstickt den König, Sir. Wollt Ihr nicht loslassen?«
    Erst jetzt schien ihm offensichtlich aufzufallen, dass der Druck seiner linken Hand großes Ungemach bereitete, er nahm sie weg und fluchte dabei vor sich hin. Der König begann zu würgen und erbrach etwas grünlichen Schleim auf das Kissen. Ich holte ein Taschentuch hervor und wischte dem König den stark entzündeten Mund ab, die Zunge war geschwollen und gelb belegt.
    Ich schickte einen Diener nach einem sauberen Kissen. Der Gestank, der vom Bett kam, war widerlich, und ich dachte bei mir, dass der König sein Leben lang einen sehr schönen, für mich wiedererkennbaren Duft an sich gehabt hatte, einen Duft wie Honig, gemischt mit Sommerfrüchten, und jetzt stank er wie ein Iltis, und das machte mich sehr melancholisch.
    Doch ich hatte nicht die Muße, dem nachzusinnen, denn plötzlich hatte Pearse mir sein Skalpell in die Hand gedrückt, zusammen mit dem Befehl: »Findet die Halsvene, Merivel, oder Ihr seid nicht länger würdig, Euch als Arzt in diesem Raum aufzuhalten!«
    Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben, und sagte zu Pearse (dessen Namensähnlichkeit mit meinem geliebten FreundJohn Pearce mich sehr grämte): »Könntet Ihr nicht Blut aus dem Arm entnehmen? Wenn die Halsvene durchstochen wird, tritt eine große Menge Blut aus – mehr vielleicht, als Ihr beabsichtigt –, und das wird Seine Majestät sehr schwächen.«
    »Wir haben ihn schon am Arm zur Ader gelassen«, erklärte Leibarzt Pearse, »doch das reicht nicht. Die Unpässlichkeit wird nicht weichen, solange das krampfende Blut nicht purgiert wird. Macht Euch also bitte an die Arbeit und ziert Euch nicht länger.«
    In all meinen Jahren als Arzt hatte ich niemals den Terminus »krampfendes Blut« gehört, doch angesichts all der Doctores, die mich anstarrten, blieb mir keine andere Wahl, als das Skalpell zu nehmen und dem Befehl Folge zu leisten.
    Ich beugte mich über den König, legte meine Hand sanft auf seinen armen Hals und sprach sehr leise mit ihm. »Sire«, flüsterte ich, »ich bin es, Merivel. Und ich habe die Angelegenheit, die wir in Eurer Kutsche besprachen, nicht vergessen. Ich denke sehr konzentriert darüber nach, wie wir es arrangieren könnten.«
    Der König blinzelte mit den Augen und öffnete den Mund und versuchte zu sprechen. Es kam kein Wort heraus, aber ich nahm an, dass er mich wohl gehört hatte.
    Ich hatte aber, wie ich gestehe, keine Ahnung, wie ich all die Menschen aus dem Zimmer schaffen und einen katholischen Priester an die Seite Seiner Majestät zaubern sollte – nicht die geringste Ahnung –, doch das sagte ich nicht.
    Unterdessen lag eine unmittelbare und viel schrecklichere Aufgabe vor mir. Zu meiner Erleichterung hatte der Leibarzt sich vom Bett entfernt, was mir etwas mehr Raum und Luft ließ. Sanft fuhr ich mit der Hand um das Ohr des Königs und an seinem Hals entlang. Und mir fiel wieder ein, wie John Pearce in der Irrenanstalt von Whittlesea einmal einen sehr cholerischen Mann an der Halsvene zur Ader gelassen hatte und wie er, als er nach der Vene tastete, gesagt hatte: »Die Halsvene ist einfach zu finden, Merivel. Sie spricht mit dir.Sie tickt wie eine Uhr. Fühl nur. Hier ist sie. Und hier ist sie nicht. Man braucht nicht zu zwicken und zu drücken, um sie zu finden. Du horchst einfach mit deiner Hand, um ihre Stimme zu hören.«
    Nicht zum ersten Mal bat ich den Geist meines verblichenen Freundes um Hilfe, und auf diese Weise konnte ich ruhig bleiben,

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