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Adiós Hemingway

Adiós Hemingway

Titel: Adiós Hemingway Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonardo Padura
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anderen Stein zum Sitzen anbot. Der Teniente hob den Stein hoch und trug ihn in die Nähe des Baums.
    »Wie mans nimmt. Für mich spielt die Zeit keine Rolle mehr. Seht mal«, er zeigte auf die andere Seite des Flusses, »es ist so, als säße ich da drüben.«
    »Zwischen den Bäumen«, ergänzte El Conde.
    »Genau da, zwischen den Bäumen«, bestätigte Ruperto. »Von dort sieht man vieles mit anderen Augen, nicht wahr?«
    El Conde nickte und zündete sich eine Zigarette an. Manolo versuchte es seinem knochigen Hintern auf dem Stein irgendwie bequem zu machen. Er musterte den Alten und überlegte, welche Taktik sein Freund wohl verfolgte.
    »Also, Ruperto«, begann El Conde, »auf dieser Seite des Flusses seh ich die Dinge folgendermaßen: In der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1958 wurde ein FBI-Agent auf der Finca Vigía ermordet. Der Mann hieß John Kirk, falls Sie der Name interessiert.«
    Er wartete auf irgendeine Reaktion des Alten, doch der sah in die Ferne, auf irgendetwas für alle anderen Unsichtbares jenseits des Flusses, zwischen den Bäumen. Vielleicht sah Ruperto den Tod.
    »Hemingway verließ Kuba am 4. Oktober. Das Seltsame daran ist, dass er eine sehr wichtige Arbeit unterbrach, die er später nie beenden konnte. Er flog in die Vereinigten Staaten, um sich dort mit seiner Frau zu treffen, wie er sagte. Aber vorher, am 3., hat er Calixto entlassen und ihm eine Abfindung gezahlt. Fünftausend Pesos hat er ihm gegeben. Viel Holz, was?«
    Dem Alten wurde es zu heiß. Er nahm seinen schmucken Hut ab und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Er hatte unverhältnismäßig große Hände, die von Runzeln und Narben überzogen waren.
    »Eine normale Abfindung hätte zwei oder drei Monatsgehältern entsprochen … Und Calixto verdiente einhundertfünfzig Pesos. Wie viel haben Sie verdient?«
    »Zweihundert. Raúl und ich waren die, die am meisten verdient haben.«
    »Er hat wirklich gut gezahlt«, bemerkte Manolo. Auf die Rolle des Beobachters beschränkt zu sein und zu schweigen, hatte ihn immer schon nervös gemacht. Aber Mario hatte ihn gebeten, sich vollkommen zurückzuhalten, und jetzt erinnerte er ihn mit einem stummen Blick an sein Versprechen. Ganz wie in den alten Zeiten, als die beiden das gefragteste Ermittlerpaar der Kripozentrale waren und Mayor Rangel, der beste aller Kripochefs, die Kuba je gesehen hatte, sie immer zusammen zur Arbeit einteilte und ihnen sogar gewisse Extratouren gestattete, wenn es der Wahrheitsfindung diente.
    »Diesen John Kirk hat man mit zwei Kugeln umgebracht«, fuhr El Conde fort und begann, etwas mit einem Zweig vor sich in den Sand zu zeichnen. »Aus einer Maschinenpistole, einer Thompson. Hemingway besaß eine Thompson, die seither unauffindbar ist. Im Haus ist sie nicht, und Miss Mary hat sie auch nicht mitgenommen. Er hat diese Waffe sehr geliebt, sogar in seinen Romanen kommt sie vor, glaub ich. Erinnern Sie sich an die Thompson?«
    »Ja.« Der Alte setzte den Panamahut wieder auf. »Damit hat er Haie gejagt. Auch ich hab sie ein paar Mal benutzt.«
    »Ah ja, genau die … Den toten Agenten hat man dann auf dem Grundstück der Finca vergraben. Aber nicht irgendwo, sondern unter dem Hahnenkampfplatz, ganz in der Nähe des Wohnhauses. Man hat die Holzspäne abgetragen, hat eine Grube ausgehoben, die Leiche samt Dienstmarke in das Loch geworfen und es wieder zugeschüttet. Dann hat man Holzspäne drübergestreut, viele Holzspäne, damit niemand merkte, dass darunter eine Leiche lag … Wenn ich mich nicht irre, geschah das in der Nacht auf den 3. Oktober, vor Tagesanbruch, bevor die anderen Angestellten auf die Finca kamen.«
    Das Lächeln, das kurz auf den Lippen des Alten aufzuckte, überraschte El Conde und ließ ihn daran zweifeln, ob er auf dem Weg zur Wahrheit war oder ob er sich im Dickicht der Vergangenheit verirrt hatte.
    Er beschloss, zum entscheidenden Schlag auszuholen. »Ich gehe davon aus, dass drei oder vier Männer an der Beisetzung beteiligt waren, denn es musste schnell gehen. Ich gehe ferner davon aus, dass der FBI-Agent von einer der folgenden Personen getötet wurde: Calixto Montenegro, Raúl Villaroy oder ihrem Chef, Ernest Hemingway. Es würde mich aber auch nicht wundern, wenn es Toribio war, der Geschorene. Oder Sie, Ruperto.«
    Wieder wartete El Conde auf eine Reaktion. Doch der Alte regte sich nicht. Als befände er sich an einem Ort, wo ihn weder die Worte des ehemaligen Kripobeamten noch die Nachmittagshitze oder die Gespenster der

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