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Adiós Hemingway

Adiós Hemingway

Titel: Adiós Hemingway Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonardo Padura
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aus dem Karton an, als hätten sie Sommersprossen. Ganz behutsam, mit zitternden Händen, hob El Conde die gefalteten Taschentücher an, und sein Herz schlug schneller, als er etwas Dunkles erblickte. Dort, schlafend, aber nicht tot, ruhte das Spitzenhöschen von Ava Gardner. In vollem Bewusstsein seines Eingriffs in die Intimsphäre nahm der ehemalige Polizist den Slip heraus, betrachtete ihn einen Moment lang im Gegenlicht und stellte sich vor, wer ihn einmal getragen und was er bedeckt hatte. Dann ließ er ihn flugs in seiner Tasche verschwinden. Er stellte den Karton an seinen Platz zurück, verließ eilig das Ankleidezimmer und trat ins angrenzende Bad.
    Während sein Atem wieder ruhiger wurde, versuchte er sich in den Daten und Gewichtsangaben zurechtzufinden, die Hemingway auf die Badezimmerwand gekritzelt hatte. Die Zahlenkolonnen folgten keiner Chronologie, und El Conde musste sich die Angaben heraussuchen, die das Jahr 1958 betrafen. Es begann mit dem Monat August und endete mit dem 2. Oktober und der Zahl 220. Die darauf folgenden Aufzeichnungen bezogen sich bereits auf die letzten Monate des Jahres 1959 bis Anfang 1960, den Zeitraum seines letzten Aufenthaltes in Havanna. Aus ihnen meinte El Conde das nahende Ende des Schriftstellers ablesen zu können. Hemingway hatte jetzt kaum mehr als zweihundert Pfund gewogen, und die letzten Eintragungen im Juli 1960 gaben sein Gewicht mit knapp einhundertneunzig an. Die ganze persönliche Tragödie Hemingways, das wirkliche Drama, lag in diesen Zahlen. Mehr als alle seine Romane, Briefe, Interviews und Aktivitäten zeugten sie von den Ängsten des Schriftstellers. Dort, alleine mit seinem Körper und einer gefühllosen, Unheil verkündenden Waage als Zeugin, hatte Hemingway die Chronik seines nahenden Todes geschrieben. Die Zahlen erzählten mehr als alle Worte.
    Näher kommende Schritte schreckten El Conde aus seinen Grübeleien auf. Mit dem unschuldigsten Gesicht der Welt sah er ins Arbeitszimmer, wo der Museumsdirektor mit den Pässen stand.
    »Wo hat er seine Feuerwaffen aufbewahrt?«, fragte er, bevor der andere etwas sagen konnte.
    »Hier, neben dem Ankleideraum, im Waffenschrank. Die anderen Waffen befanden sich im zweiten Stock des Turms, zusammen mit den vielen Messern und Dolchen und den Massai-Lanzen, die er 1954 von seiner Safari mitgebracht hatte.«
    »Dieser Waffennarr! Und die Thompson? War sie hier oder im Turm?«
    »Normalerweise hat er sie im Turm aufbewahrt. Hier waren nur die Jagdgewehre und der Mannlicher-Karabiner, der hing immer über dem Regal.«
    »Aber ich hab die Thompson doch hier gesehen, da geh ich jede Wette ein.« El Conde kramte in seinem Gedächtnis nach der Erinnerung an den genauen Ort. »Na schön … Welcher ist der von 1958?«, fragte er Tenorio, der die Pässe auf den Schreibtisch legte, in den grotesken Schatten des riesigen Büffelkopfes.
    »Der hier«, sagte der Direktor und reichte ihm einen der Pässe. »Er wurde 1957 ausgestellt.«
    El Conde blätterte das Dokument Seite für Seite durch, bis er das fand, was er suchte: den Stempel der Ausreise aus Kuba am 4. Oktober 1958 und, gleich daneben, einen zweiten desselben Datums für die Einreise in die Vereinigten Staaten, Flughafen Miami, Florida.
    »Ja … Am 2. Oktober hat er aufgehört zu schreiben und sich zum letzten Mal gewogen. Und am 4. ist er abgereist. Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, was er am 3. gemacht hat. Manolo wird uns das gleich sagen.«
    Der Teniente hatte bereits den größten Teil der Papiere gesichtet. »Das hier betrifft seine Grundstücksgeschäfte, Eigentumsurkunden und Empfangsbestätigungen und so weiter, aber aus den Vierzigerjahren«, sagte er. »Ihr könntet mir ruhig mal helfen.« El Conde und der Museumsleiter traten zu ihm an den Schreibtisch.
    »Was suchen Sie denn?«, erkundigte sich Tenorio.
    »Alles, was mit dem 3. Oktober 1958 zu tun hat, wie gesagt … Seien Sie dem Teniente ein wenig behilflich, ich geh mal für ’n Moment raus, ich muss eine rauchen.«
    El Conde durchquerte den Salon und betrachtete, bevor er das Haus verließ, noch einmal die Kulisse: die Stierkampfszenen an den Wänden, die leeren Sessel, die Hausbar mit den alt und nutzlos gewordenen, ausgetrockneten Flaschen. Er warf auch einen Blick ins Esszimmer mit den Jagdtrophäen und dem großen Tisch, der mit dem legendären Geschirr der Finca Vigía gedeckt war. Hinten in dem Zimmer, in dem Hemingway jeweils geschrieben hatte, sah er die Füße des Bettes, auf

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