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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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würde, wenn ich die Kraft dazu hätte.
    Und?, frage ich.
    Zu dem Künstler zum Beispiel, sagt sie, der die Statue gemacht hat.
    In dieser Nacht hatte Jessie einen der schlimmsten Anfälle, den ich je bei ihr erlebte.
    Hörst du das, sagte sie.
    Sie saß auf dem Küchenstuhl und schaute über meine Schulter auf den Flur, wo ihre Stiefel standen und wie abgeschnittene Kinderfüße wirkten, in flachem Winkel zueinander gedreht.
    Ich höre sie kommen, sagte sie.
    Nichts hörst du, sagte ich.
    Ich habe Adlerohren, sagte sie.
    Adler, sagte ich, haben keine Ohren.
    Dann fing sie an zu hupen, jeder ihrer Atemzüge wurde von einem kleinen Geräusch begleitet, einem anfangs leisen, aber bereits durchdringenden Ton, als befände sich in ihrer Brust ein Instrument, das durch die Atemluft zum Klingen gebracht wurde. Ich rannte nach einem Buch und las für sie, aber das stoßweise Hupen ging sofort in einen langgezogenen Ton über, jetzt wie abgekoppelt von der Atmung, als würde sie gar keine Luft dafür benötigen. Ich ließ das Buch fallen, fasste ihre Schultern und schüttelte sie, bis das Geräusch abbrach und sie mit aufgerissenem Mund nach Luft rang wie gerade noch an Land gezogen.
    Als ich klein war, haspelte sie, hat Ross mir immer einen Tennisball gezeigt, in den ein Schlitz geschnitten war. Er öffnete den Mund, wenn man ihm auf die Backen drückte. So konnte Ross ihn sprechen lassen. Der Ball sah wie Pac-Man aus und er plapperte, Jessie, sagte er, du redest zu viel. Du störst mit deinem Geschwätz. Du sollst still sein. Sonst wird ein Unglück geschehen. Und dann sagte er, guck, was mit mir passiert, und der Mund ging weit auf. Die beiden Kopfhälften klafften auseinander. Eines Tages, sagte er, geht dir vom vielen Sprechen der Mund ganz um den Kopf und der Kopf wird dir auseinander fallen. Und ich versprach, stumm zu werden. Ich wollte ein Fisch sein. Ich habe es immer wieder versprochen und es nie geschafft.
    Jessie, sagte ich, du redest nicht zu viel. Ich liebe es, wenn du sprichst.
    Sie hörte mich nicht mehr.
    Jetzt werde ich bestraft, sagte sie, schrecklich bestraft. Ich höre sie kommen.
    Ich schüttelte sie, sie begann wieder zu hupen, ich schrie ihr in die Ohren, sie reagierte nicht. Ihr Körper wurde schlaff, ich musste sie immer wieder davon abhalten, vom Stuhl zu fallen. Ich rannte nach einer Decke, ich packte sie ein bis über beide Ohren. Du bist ein Fisch, erklärte ich ihr, Fische schlafen, wenn man sie zudeckt.
    Während ich von außen gegen irgendetwas kämpfte, das sich in ihrem Kopf abspielte und das ich nicht wirklich verstand, dachte ich nur daran, selbst wach und gesund zu bleiben, die Nacht bis zur ersten Helligkeit mit ihr zu überstehen und den Glauben an den nächsten Morgen nicht zu verlieren. Dabei half mir das Koks, das ich mir immer wieder aus ihrem Kühlschrank holte. Das Koks und der Hass.
    Deine Jessie …
    Clara versagt die Stimme. Ich glaube, es ist das erste Mal, dass sie »Jessie« gesagt hat und nicht »Tussi« oder etwas Ähnliches.
    Sprich lauter, sage ich, ich bin schwerhörig.
    Es ist offensichtlich, dass sie nicht lauter kann, ich will sie nur quälen.
    Deine Jessie, sagt sie, war vielleicht gar nicht so verrückt.
    Und sich ins Ohr zu schießen, frage ich, ist wohl normal?
    In manchen Situationen vielleicht schon, sagt Clara.
    Plötzlich öffnet sie die Augen und rappelt sich auf, schwankend wie ein Kamel, das zu lange gekniet hat. Ihre Gelenke knacken in einer ganzen Abfolge unterschiedlicher Lautstärken und Tonhöhen. Jetzt ist sie wirklich blass, die Sonnenbräune ist nur noch eine Schmutzschicht an der Oberfläche der Haut. Ihr Atem geht wie gejagt, der Schweiß auf ihrem Gesicht könnte auch Säure sein, er hinterlässt rote Flecken auf Stirn und Backen und über der Oberlippe. Ich stehe ebenfalls auf, mir schmerzen die Knochen vom langen Sitzen auf dem Steinboden. Die Straße ist völlig leer, die Hitze zieht Gerüche aus allen Ecken, es riecht nach Exkrementen, Benzin und aufgeheizten Mülltonnen. Ich sehe einen Marder unter einem Auto hervorhuschen und unter dem nächsten verschwinden.
    Max!
    Sie fasst mich am Arm. Als sie zusammenklappt, halte ich ihr die Haare im Nacken zurück. Ein Blubbern steigt in ihr auf, das mich an den Wasserspender in der Kanzlei erinnert, mit großem bläulich transparentem Tank und beigefügter Pappbechersäule. Wenn man einen Becher voll herausließ, waberte eine Luftblase im Innern nach oben wie eine durchsichtige Qualle. Clara

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