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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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die hau i erst zsammen, wenn i an Käufer für die Figur hob, und der brennt a Schweinegeld, des kannst mir glauben.
    Als ich rauskomme, steht Clara aufrecht und hält sich mit einer Hand an der Kante des Schieferdachs fest. I wett dass i aan von euch bald wieder do hob, hat der Künstler zum Abschied gesagt. Clara sieht in der Tat aus, als könnte ich sie ihm auch gleich hier lassen. Langsam öffnet sie die Lider, ihre Augen darunter sind nach oben gedreht, und das himmelblaue scheint wirklich haargenau aus dem gleichen Stoff gemacht wie die fehlerlos blaue Kuppel über uns. Vielleicht hält ihr kleines Bewusstsein hinter den kleinen blauen Fetzen ihrer Augen Zwiesprache mit dem großen Bewusstsein hinter der großen Himmelsdecke. Adler und Engel, denke ich, und dann auf Englisch, weil es besser klingt: Eagels and Angels . Endlich dreht sie die Augäpfel herunter und schaut mich an.
    Er steht doch sowieso in der Galerie, sagt sie, warum gehst du nicht dorthin gucken, wenn du Sehnsucht hast.
    Als Hohlform gefällt er mir besser, sage ich. Schaffst du den Rückweg?
    Sie gibt ihrem Blick Auslauf über die Felder, auf denen Sonnenblumen ihre schwarz gewordenen Köpfe der Erde zuwenden, als würden sie wie alte Menschen gebeugt den Boden betrachten, unter dem sie bald zu liegen kommen werden. Alle sind in unsere Richtung gedreht, vielleicht verneigen sie sich zum Abschied vor uns, vielleicht halten sie uns für etwas Lebendiges.
    Ich gehe näher an den Rand des Feldes und hebe einer der großen Blumen den Kopf. Ihr schwarzes Gesicht ist entstellt von den unzähligen Spitzen, die daraus hervorgebrochen sind, es ist schwer bepackt mit lückenlos sitzenden Kernen, deren Gewicht der Blume den Hals krümmt. Als ich sie loslasse, fällt sie in ihre gebogene Form zurück, unbeholfen nickend wie eine Schießbudenfigur.
    Max, höre ich Claras Stimme hinter mir, ich will ein kleines Haus irgendwo im Wald mit einer zerzausten Trauerweide davor. Das ist alles. Mehr will ich nicht vom Leben. Niemals.
    Ich überlege, ob ich die Blume abbrechen und ihr bringen soll. Dann fällt mir ein, dass ich den Stengel wahrscheinlich eine halbe Stunde lang im Kreis winden könnte, bis endlich die letzte Faser durchgerissen ist, und dabei würde ich mir noch die Hände zerschneiden.
    Mein Herz, sage ich, das klingt toll, aber es sind gerade die einfachen Dinge im Leben, die man niemals bekommt.

26 Harter Brocken
    S eit ich auch noch Clara mit dem Zeug füttere, gehen die Vorräte schnell zu Ende. Da ich mit etwa hundert Gramm hier angekommen bin, kann ich mir ausrechnen, dass seitdem mindestens drei Wochen vergangen sein müssen, wenn sich nicht Clara oder der Hund das Pulver heimlich wie Zucker in den Kaffee streuen. Drei Wochen in diesem Drecksloch, und ich kann mich an höchstens drei oder vier Nächte erinnern, an zwei verschiedene Himmelsfarben, eine Mahlzeit, keine Temperaturschwankung und an einen einzigen, endlosen Nachmittag. Wenn ich alles zusammennehme, reicht die Erinnerung im Rückblick für höchstens drei vollständige Tage. Gleichzeitig fühle ich mich, als hätte ich überhaupt noch nie woanders gelebt und alles Frühere, meine ganze Vergangenheit nur geträumt im Verlauf der ungezählten heißen Nachmittagsstunden, die ich reglos in der Hängematte verbringe. Und genau wie bei einem Traum muss auch die Erinnerung an Vergangenes in eine logische Geschichte verwandelt werden, wenn man sie behalten will; sie braucht Anfang und Ende und Ereignisse, die in einer ordentlichen Kausalkette aufeinander folgen, sie braucht eine nachvollziehbare Handlung wie ein Spielfilm. Alles, was sich nicht einpassen lässt, wird vergessen. Letztlich wird fast alles, denke ich, vergessen.
    Von drei ganzen Wochen hätte ich erwartet, dass sie mich dreißig Jahre altern lassen, dass sie mir den Rücken krümmen, das Fleisch von den Knochen fressen und die letzte Kraft aussaugen. Dreißig Jahre in drei Wochen, das macht kaum anderthalb Jahre am Tag. Das kann eigentlich nicht so schwer sein. Stattdessen schlafe ich immer besser, stehe aufrecht und fühle mich, wenn ich ehrlich zu mir selber bin, so gesund wie schon lange nicht mehr. Vielleicht bis auf die Schmerzen in der Nase, die nicht mehr nachlassen und mir sagen, dass ich bald ein großes Loch in der Nasenscheidewand haben werde. Es wird bluten. Sterben werde ich davon nicht. Im Moment kommt es mir nicht so vor, als würde ich überhaupt jemals an irgendetwas sterben. Ich hoffe nur, dass das ein

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