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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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überlegte er, ob die Frage ernst gemeint ist.
    Ich fahre jetzt auf der Polenroute, sagt er. Weiß er etwa nicht, dass der Süden längst Vergangenheit ist?
    Bardzo dobrze, sage ich, Vergangenheit ist meine Lieblingszeit.
    Während er sich umständlich die Zigarette ansteckt, bemühe ich mich um Konzentration und denke an die neuen, erleichterten Handels- und Grenzverträge mit den Oststaaten, über denen ich in der Leipziger Niederlassung von Rufus’ Kanzlei gesessen habe, Verträge, die schon jetzt faktisch die EU-Außengrenze um fünfhundert bis siebenhundert Kilometer weiter nach Osten verlegen. Irgendwo am Horizont meines Verstands beginne ich zu begreifen, an was, zu welchem Zweck und für wen ich da möglicherweise gearbeitet habe, und bevor dieser Gedanke wirklich Gestalt annehmen kann, würge ich ihn ab und denke lieber daran, wie lustig es ist, ständig auf Menschen zu treffen, die erheblich mehr über mich wissen als ich selbst.
    Als unsere Blicke sich das nächste Mal treffen, hat seine Miene sich verändert, er sieht ruhiger aus, auch wenn er immer noch zu schnell atmet. Eine neue Taktik. Vielleicht ist er gar nicht so sehr auf Pille, sondern aus einem anderen Grund höllisch nervös. Vielleicht hat er Angst vor irgendetwas.
    Pass er mal auf, sagt er, er ist doch ein cooler Typ. Ich weiß doch, dass er das Zeug dazu hat, die alle zu verarschen.
    Oder ihm sind einfach nur die letzten Synapsen durchgeknallt.
    Was ist denn jetzt los, frage ich.
    Na …, sagt er, pass auf … Er braucht ihnen ja nicht zu erzählen, dass ich ihr dabei geholfen habe. Ein kluges Mädchen wie sie hätte das auch alleine gekonnt. Versteht er?
    Nein, sage ich, ich habe keinen Blassen, wovon du sprichst.
    Die Zigarette ist ausgegangen, seine Backen biegen sich nach innen, während er vergeblich saugt. Ich finde ein Feuerzeug in der Hosentasche und werfe es ihm zu.
    Genau, Mann, sagt er begeistert. Immer dumm stellen. So soll es auch bleiben. Erzähl er ihnen, was er will, aber mich lässt er dabei aus dem Spiel. Auch kein Wort zu Clara, okay?
    Ich räuspere mich, er versteht das als Zustimmung und wird ganz eifrig. Jetzt steht er wieder so nah an der Schuppenwand, dass ich Angst bekomme, er könnte sich bei einer seiner ruckartigen Kopfbewegungen den Schädel an der Mauer zertrümmern.
    Weißt du …, sagt er, von der Kohle ist auch noch was übrig. Ich meine, falls er mal Geld braucht. Oder irgendwas anderes.
    Außer Clara brauche ich nichts, sage ich. Schließlich bin ich zum Abkratzen hier.
    Prima, Mann, sagt er, je früher abkratzen, desto besser. Die Clara kann er behalten, er hat uns ja eh alle im Griff. Und was mich betrifft, hält er einfach die Klappe. Ich weiß ja, dass er ein harter Brocken ist.
    Er fängt an, in seinen kartoffelsackgroßen Hosentaschen zu kramen, bringt schließlich Zettel und Stift hervor und hebt ein Knie, um es beim Schreiben als Unterlage zu verwenden.
    Falls es ein Problem gibt, sagt er, wäre es nett, wenn er mich anrufen könnte.
    Er reicht mir beides, den Zettel mit der Telephonnummer und den Stift; ich finde es toll, mal wieder so einen »I love Wien«-Kugelschreiber zu haben. Dann wendet er sich zum Gehen.
    Und das Auto?, rufe ich.
    Er hat den Hof schon verlassen.
    Ich finde Clara auf dem Boden unter dem Kunstseideschlafsack, den sie aus der Hängematte und über ihren Körper gezogen hat. Sie ist wirklich kaum zu sehen, man muss wissen, dass sie da ist, um sie zu erkennen. Ich schiebe ihr eine brennende Zigarette zwischen die Finger, sie bedankt sich. Ich sehe zu, wie der Ascheschwanz immer länger wird und schließlich abbricht, wie die Glut sich bis zum Filter hinunterfrisst, und als dieser zu qualmen beginnt, nehme ich ihr die Kippe wieder weg, ohne dass sie auch nur einmal daran gezogen hätte.
    Max, sagt sie leise, mir ist langweilig.
    Es kann nicht mehr lange dauern, sage ich, inzwischen weiß jeder Schwanz, dass wir hier sind. Sie werden uns holen.
    Was redest du da, flüstert sie, wer »sie«.
    Die uns suchen, sage ich, Ross und die anderen.
    Niemand sucht uns, sagt sie, wir sind so uninteressant wie ein Haufen Altpapier.
    Auch der will irgendwann entsorgt sein, sage ich.
    Dieser Ort ist vergessen, sagt sie, gottverlassen, das ist das Ende der Welt. All die Seefahrer haben es umsonst gesucht, und wir haben es gefunden, mitten in einer Stadt, wo niemand es vermutet hätte.
    Wie sie so daliegt, leicht verrenkt, und dabei poetisch spricht, finde ich sie schön wie nie. Das Hemd ist

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