Adler und Engel (German Edition)
Büroschreibtisch getan hatte, und verwarf den Gedanken wieder. Es kam sowieso nicht drauf an. Jessie ging zum Kühlschrank.
Was hast du denn den ganzen Tag gemacht, fragte ich.
Gearbeitet, sagte sie.
Ihre Armbewegung umfasste die ganze Wohnung.
Geputzt, aufgeräumt, gestaubsaugt, sagte sie, fällt dir das gar nicht auf?
Jetzt fiel es mir auf. Es war Irrsinn, aber ich war gerührt, und vor allem war ich froh, dass sie nicht außer Haus gewesen war.
Fein, sagte ich, danke.
Sie schenkte zwei Wassergläser voll Wein und stellte mir eins hin.
Prost, sagte sie.
Mit zurückgelegtem Kopf leerte sie ihr Glas, ohne abzusetzen. Danach standen ihr Tränen in den Augen. Ich trank ebenfalls ein paar große Schlucke. Wir schwiegen.
Jessie, sagte ich schließlich, was hältst du von einem Spaziergang?
Au ja, au ja, sagte sie.
Sie sprang sofort auf, rannte zurück auf den Flur und machte sich daran, ihre Armeestiefel anzuziehen. Es gelang ihr nicht, sie hüpfte hilflos auf einem Bein herum. Ich hielt sie fest und drückte sie sanft zu Boden. Beim Berühren ihrer Schultern merkte ich, dass sie vibrierte, auch ihre Beine zitterten leicht. Ich band ihr die Schnürsenkel.
Frierst du, fragte ich.
Ja, sagte sie, schon den ganzen Tag.
Ich holte ihr einen alten, buntgestreiften Pullover von mir, von dem ich glaubte, dass sie ihn mögen würde. Es war genau der Pullover, mit dem ich sie zur Winterzeit in den Schnee hatte tunken wollen, direkt vor den Augen der lächelnden, weißen Wölfe. Der Pulli ging ihr bis zu den Knien, die Ärmel rollte ich zu dicken Würsten auf. Ich sagte ihr, dass sie schön aussehe darin.
Ich konnte nicht sicher sein, dass sie tagsüber keinen Kontakt gehabt hatte zu ihrer Familie, möglicherweise war sie angerufen worden oder hatte selbst telephoniert. Ich konnte nicht wissen, wie viel sie wusste, nicht einmal, ob sie sich daran erinnern konnte, wie und warum wir in der Nacht zuvor aus der Praterstraße 61 geflohen waren. Nach wie vor konnte sie ihre Aufnahme- und Merkfähigkeit regulieren wie andere Leute die Lichtanlage im Wohnzimmer. Wider Willen musste sie gar nichts wissen. Solange man ihr nicht dazwischenfunkte.
Wir nahmen die Straßenbahn in den Sechzehnten Bezirk, setzten uns nicht hin, sondern standen im letzten Wagen an die Rückscheibe gelehnt, und in jeder Kurve fiel Jessie schwer gegen mich wie ein müdes Kind.
Ich strähle die Haare mit den Fingern und lege sie ordentlich neben mich auf den Boden. Clara sieht aus, als hätte eine Kuh von ihrem Kopf gegrast, ich muss lächeln, ihr Gesicht ist rot und klitschnass, ich weiß nicht, wovon. Ich schäume ihren ganzen Schädel ein und tauche den Rasierer ins Wasser. Jetzt geht es gut, immer mit dem Strich, zuerst von der rechten Schläfe zum Ohr.
In der Wilhelminenstraße stiegen wir aus und kletterten die Savoyenstraße hinauf bis zum Schloss. Wir gingen nebeneinander, ohne uns zu berühren, der Wind presste ihr die Haare an die eine Seite des Kopfes, sie sah ganz verändert aus. Wir schwiegen, bis wir den Wald erreichten. Dort belebte sie sich, rannte voraus und versteckte sich in der Dunkelheit. Mein bunter Pullover leuchtete überall zwischen den Bäumen, und ich musste lügen, wenn sie wissen wollte, ob ich sie noch sah.
Wir schlugen einen Bogen im Wald, unauffällig dirigierte ich sie zur Straße zurück und wir folgten der Linkskurve. Schon einen halben Kilometer vor dem Gelände der Kläranlage schlug uns der Geruch von Kanal und Kloake ins Gesicht. Der Wind ging stark und stand auf Nordwest. Plötzlich blieb Jessie stehen, hob ein Bein und legte einen Finger an die Lippen.
Ach, sagte sie, jetzt fällt mir wieder ein, was ich letzte Nacht geträumt habe.
Was denn, meine Kleine, fragte ich.
Ich sehnte mich danach, sie in den Arm zu nehmen, meine Nase in ihren Haaren zu vergraben, den Kläranlagengestank nicht mehr zu riechen, stattdessen den verletzlichen Duft ihres Scheitels.
Jemand hat mich nachgebaut, sagte sie, eine Statue, so groß wie ich und ganz aus Scheiße. Er hat die Statue auf der Straße aufgestellt, und dort haben die Hunde sie gefressen und sich die Bärte damit beschmiert. Es hat fürchterlich gestunken. Genau wie jetzt.
Sie schaute sich unsicher um, als könnte diese Statue, sie selbst ganz aus Scheiße, hinter der nächsten Ecke stehen.
Das ist nur die Kläranlage, sagte ich, gehen wir schnell weiter.
Sie griff nach meiner Hand, suchte sich Mittel- und Ringfinger und umfasste sie mit der Faust. Ich wollte
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