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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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wollte, trat ich versehentlich auf eine Strähne ihrer Haare, ein ganzes Büschel blieb unter meinem Schuh zurück. Sie legte die Hände zusammen wie ein Katholik und hob sie mir entgegen.
    Du willst weg, sang sie, weg-weg-weg.
    Auf drei ansteigenden Tönen summte sie weiter, weg-weg-weg, es war die Melodie von dor-mez-vouz in »Frère Jacques«. Ihre Stimme war laut, metallisch, der Turm gab ihr Resonanz.
    Ich-will – dei-ne – Frau sein, sang sie, geb-mir – sol-che – Mühe.
    Hörst-du – nicht-die – Glocken, hörst-du – nicht-die – Glocken. Sie würgte ein paar Mal, dann sank ihr Kopf zur Seite, und als ich sie aufhob, wehrte sie sich nicht mehr. In ihrem Mundwinkel stand eine Speichelblase, die ich vorsichtig mit der Fingerspitze zerplatzen ließ.
    Mit Jessie auf den Armen rannte ich die Treppe hinunter, meine Schritte brachten das Metall in unterschiedlichen Tonlagen zum Schwingen, dann zum Dröhnen, ich lief über den Gong, hörst du nicht die Glocken, ding-dang-dong, ding-dang-donnngggg.
    Ganz ruhig, flüsterte ich nah bei ihrem Kopf, ganz ruhig, ich geh doch nicht weg.
    Ich rannte mit ihr durch den Scheißegestank, sie brabbelte kleine Töne und Silben und lächelte manchmal. Es gab keinen Grund zu rennen, es war nur so, dass ich zwischen den Baumstämmen die Straßenlaternen angehen sah, eine nach der anderen, und ich konnte es nicht erwarten, ihre orangefarbenen Lichtkreise zu erreichen. Als es so weit war, wurde ich trotzdem nicht langsamer. Wie im Zeitraffer tauchten die langgestreckten, mehrstöckigen Gebäude der Baumgartner Höhe vor mir auf, sie lagen weiß im dunklen Wald, Atlantikfähren im Ozeanwasser. Nach Grönland.
    Der Parkplatz war leer, das Häuschen vom Pförtner erleuchtet.
    Es vergingen nur wenige Minuten, bis ich wieder hinaustrat. In jeder Hand hatte ich ein Taschentuch, damit trocknete ich mir Schläfen, Haare, Stirn, Hände. Jessie war in dem Raum hinter der Glastür auf die Knie gefallen und hatte den Namen gebrüllt, den sie für mich hatte, dass es von sämtlichen Wänden des ganzen Komplexes widerhallte: Cooper – Cooper, ich hörte es noch, als ich allein irgendein Treppenhaus hinunterlief, mich verirrte, einen Pfleger anstieß, Slalom lief um steife, schwankende Gestalten mit schiefgelegten Köpfen, die sich so langsam auf den Gängen bewegten, dass sie im Verhältnis zu meinem Tempo wie ein Standbild wirkten.
    Ich blieb auf dem Parkplatz stehen, mein ganzer Mund war voll mit abgestandenem, lauwarmem Speichel, den ich zu schlucken vergessen hatte, ich spuckte aus. Ich betrachtete den Himmel, der wie eine dunkel getönte Scheibe war, mit einem Fleck konzentrierter Helligkeit oben rechts, als würde mit einem Scheinwerfer von hinten dagegen geleuchtet, und ich betrachtete meine Hände, bemüht, etwas Bekanntes darin wiederzuentdecken. Es gab keinen einzigen Gedanken mehr in meinem Kopf.
    Als ich wieder aufschaute, sah ich am Rand des Parkplatzes ein Auto, das vorher noch nicht dort gestanden hatte. Ich zwinkerte so lange, bis ich die Person erkannte, die in der offenen Fahrertür lehnte. Es war Ross. In Panik überlegte ich, zurückzurennen zum Haus und mich hinter die kleine Eingangstreppe zu werfen. Es war sinnlos. Wenn er schießen wollte auf diesem großen, leeren Gelände, konnte er es jederzeit tun. Ich wartete einfach. Er hob eine Hand und winkte. Es sah aus, als würde er die weiße Fahne hissen. Die Hand steckte in einem dicken Verband.
    Max, rief er, schnell!
    Plötzlich war ich froh, ihn zu sehen; überhaupt eine Stimme zu hören, die aus jemandem herauskam, der keinen Arztkittel trug. Ich lief auf ihn zu, er streckte die gesunde Hand aus und legte sie mir auf die Schulter. Er sah insgesamt noch kantiger, trockener und härter aus, als hätte er während der letzten zehn Jahre wie ein großes Stück Holz am Strand gelegen und sich von Sonne, Wind und Salzwasser aushärten lassen. Er musste bereits auf die vierzig zugehen. Aus seinen unbewegten Augen war nichts zu lesen, aber er zog nervös die Unterlippe ein und kaute darauf herum. Unter seinem Blick spürte ich, wie mein Atem flog, dass meine Stirn in Falten lag und sich nicht glätten ließ, dass meine Mundwinkel zuckten.
    Was hast du nur getan, sagte er.
    Ich wusste nicht, ob er den Mord meinte oder Jessie. Er griff in seinen Wagen und holte den Zigarettenanzünder heraus, mit dem er zwei ansteckte. Ich zog kräftig und schielte, um zu sehen, wie sich die Glut knisternd in das Papier fraß. Ross legte

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