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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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jetzt schnell voran, am liebsten rennen, ich wollte um die letzte Kurve biegen, Jessies Hand fester fassen in dem Moment, da sie verstehen würde, wohin wir gingen. Hoffen, dass sie nicht zu schreien begänne, ihr notfalls die Arme auf den Rücken drehen und die viel zu langen Ärmel meines Pullovers, in dem sie steckte, miteinander verknoten.
    Sie zog mich zurück.
    Da ist doch der Aussichtsturm, sagte sie, da möchte ich hin.
    Ich zog sie weiter.
    Ach nein, sagte ich, der Wind, und dann der Gestank.
    Doch, doch, sagte sie, bitte.
    Ich gab nach. Es kam einfach überhaupt nicht mehr darauf an. Sie lief mir wieder voraus, weg von der Straße und einen schmalen Waldweg entlang, der auf den kleinen steilen Hügel stieß, auf dem der Aussichtsturm stand. Der Weg legte sich als spiralförmige Manschette ein paar Mal um die Hänge herum. Jessie wählte die gerade Strecke und kletterte auf Händen und Füßen durch den Matsch nach oben. Der Weg war schlammig, ich spürte, wie sich die unteren Enden meiner Hosenbeine mit Schmutzwasser voll saugten und immer schwerer wurden. Jessie war schon längst oben, als ich anfing, die Metallstufen zu erklimmen, die im Zickzack zwischen Stahlrohren hinaufführten. Insgesamt war das Gestell gut dreißig Meter hoch.
    Als ich mit der Nachrasur fertig bin, fange ich an, Claras abgetrennte Haare zu einem dicken Zopf zu verarbeiten. Diese Frisur habe ich an ihr am meisten gemocht, und so ein Zopf ist auch ein schönes Andenken, für wen auch immer, für die Überlebenden. Vielleicht sollte ich ihn mir selbst an den Hinterkopf kleben. Max, hat sie gesagt, wenn du wissen willst, was jemand denkt, musst du sein Äußeres annehmen.
    Nur dass ich eigentlich nie wissen wollte, was sie denkt.
    Oben wurde der Wind zum Sturm, er warf Wolkenfetzen über den Himmel und fingerte mit einzelnen ausgerissenen Blättern herum. Die beiden Becken der Kläranlage sahen aus wie eine Nickelbrille, dem Wald ins Gesicht gedrückt. Darüber kreisten die Möwen, Flocken in einem Schneeglas, ab und zu niedersinkend und in das Becken hineinstoßend, und ich wollte wirklich nicht darüber nachdenken, wonach sie tauchten. Der Wind sang mehrstimmig in den Rohren, das ganze Gerüst zitterte wie eine riesige Stimmgabel. Jessie hatte beide Hände auf dem Geländer und hielt das Gesicht den Böen entgegen. Sie trieben ihr die Tränen aus den äußeren Augenwinkeln und über die Schläfen Richtung Ohr. Auch ich hielt mich fest. Für einen Moment war es, als würden wir, gemeinsam vorausschauend, dem Fahrtwind der Erdumdrehung trotzen.
    Ich bin ein Schiff und schäume, rief Jessie, wir fahren nach Grönland!
    Sie lachte und begann, sich mit ganzem Gewicht zurück und wieder vor gegen das Geländer zu werfen, bis die Aussichtsplattform schwankte, die Rohre abgehackt sangen, der Turm in den Gelenken quietschte.
    Lass das doch, sagte ich.
    Ich stellte mich breitbeinig wie ein Matrose auf schwerer See.
    Jessie!, rief ich.
    Ein Schiff, ein Schiff!
    Sie arbeitete mit ganzer Kraft. Ich sah ihre Fingerknöchel weiß hervortreten und ich sah den Schweiß auf ihrer Stirn. Sie wich mir aus, als ich nach ihr fassen wollte, verlor den Rhythmus und prallte hart gegen das Geländer. Ich packte sie und presste sie gegen das Metallgestänge. Zweimal traf ihr Ellenbogen mit instinktiver Sicherheit meinen Solarplexus, ich schnappte nach Luft, ließ aber nicht los, ich hielt sie fest, bis sie aufhörte zu strampeln. Auch die Bewegungen des Turms beruhigten sich, bis er wieder stillstand, vibrierend, tönend. Jessies Gesicht war feucht. Ich war nicht sicher, ob sie mich erkannte. Sie schien etwas zu suchen in meinen Augen, auf meiner Nase, in den Winkeln meines Mundes.
    Jessie, sagte ich, wir müssen jetzt gehen.
    Noch eine Sekunde lang tanzte ihr Blick über mein Gesicht, dann schlug sie einen Haken, schlüpfte unter meinem Arm durch und rannte auf die andere Seite der Plattform. Dort warf sie sich bäuchlings über das Geländer, schwang ein Bein darauf und verlagerte gerade das Gewicht, als ich endlich reagierte. Ich sprang, ich hatte nicht gewusst, dass ich so springen konnte, erwischte sie mit einer Hand in den Haaren, mit der anderen am Pullover und zog sie zurück. Wir strauchelten, sie fiel auf den Stahlboden. Es gab ein Geräusch wie von einem großen Gong, wahrscheinlich hatte sie sich den Kopf angeschlagen. Ich erwartete einen Schrei, aber sie machte keinen Mucks, ihre Lippen waren fest zusammengepresst. Als ich mich über sie beugen

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