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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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gibt ein Problem und wir sind alle hysterisch.
    Er zeigte zum dritten Mal auf den Gebäudekomplex.
    Mir geht es vor allem um eins, sagte er, diesmal wird DAS DA sie endgültig zerstören.
    Ich spürte, wie mein Kopf zu nicken begann.
    Okay.
    Einen Moment lang legte er mir seine gesunde Hand auf den Arm, es war eine freundschaftliche Berührung wie unter Vertrauten, und in seinem halb erstarrten Gesicht glaubte ich etwas wie Zuneigung zu lesen oder vielleicht wenigstens den Versuch, Zuneigung zu mir zu empfinden.
    Max, sagte er, liebe sie. Lass sie nie was anderes spüren. Zu Herbert und mir wird sie nicht zurückkommen.
    Dann umrundete er sein Auto, stieg ein und startete den Motor.
    Wieso, fragte er durchs Fenster, hast du Shershah eigentlich dermaßen gehasst? Der war doch in Wahrheit sogar noch hilfloser als Jessie.
    Weiß nicht, sagte ich. Vielleicht weil er glaubte, für nichts im Leben jemals bezahlen zu müssen.
    Der Wagen rollte an.
    Du bist ein Psychopath, Max, rief Ross. Ich bestell euch ein Taxi. Viel Glück.
    Ich ging los, in die andere Richtung.
    Hallo, ich noch mal, sagte ich fröhlich zum Pförtner, hab meine Brieftasche liegen lassen.
    Die Tür summte, wir grüßten mit erhobenen Händen. Ich fand den Weg wie am roten Faden gezogen. Lass sie nicht weg sein, lass sie nicht weg sein, skandierte es in meinem Kopf. Starre Gestalten auf den Bänken längs der Gänge zogen vorbei wie Fahrbahnbegrenzungen. Ich fand die Treppe, ich sah die Glastür, die sich nur von außen öffnen lässt, am anderen Ende des Flurs, ich erkannte meinen bunten Pullover dahinter. Jessie klebte von innen an der Scheibe, die Finger erhoben und verkrampft, Halt suchend am Glas, Backe und Mund flachgedrückt, blutleer. Ihr Haar war feucht und ließ Kopfhaut sehen, ihre Augen waren offen, aber sie sah nicht hinaus. Sie wartete schon nicht mehr.
    Ich riss am Türgriff, sie fiel mir entgegen. Wahrscheinlich hatten sie ihr etwas gespritzt. Ich wollte, dass sie selber ging, das sah weniger dramatisch aus. Ich legte ihren Arm über meinen Nacken, sie hing neben mir in der Luft, ihre Füße berührten den Boden nicht. Ich zwang mich zur Langsamkeit, ich sprach mit ihr.
    Wir müssen doch unseren Spaziergang noch zu Ende machen, sagte ich.
    Im Treppenhaus nahm ich sie auf den Rücken. Der Pförtner sah nach vorne, ich lief auf die Tür zu und ließ Jessie zu Boden gleiten, dass sie wie ein Hund gegen meine Schienbeine lehnte, unterhalb der Glasscheiben.
    Ich bin’s, sagte ich, alles klar.
    Er drehte sich um, die Tür summte, die Schleuse war offen. Ich riss Jessie hoch, meine kleine schlafende Schöne, nahm sie auf die Arme und rannte über den Parkplatz. Das Taxi stand vorne an der Straße.
    Ich ärgere mich, dass ich mit dem stumpfen Messer die Haare nicht in voller Länge abschneiden konnte, geflochten ist der Zopf viel kürzer als erwartet, ich stopfe ihn mir in die Hosentasche. Ich wasche Claras Schädel noch einmal, als die elenden Schnittwunden getrocknet sind, tupfe ihn mit einem Zipfel meines Hemds ab und richte sie danach halb auf, um mein Werk zu betrachten. Sie sieht sogar noch besser aus als vorher. Genau wie eine Schaufensterpuppe: steckendürr, kahlköpfig, halbnackt. Nicht mehr wie Clara. Ich denke angestrengt nach, mein Hirn ist so langsam geworden, so verdammt langsam, mir fällt kein einziger Frauenname ein. Clara. Klaus. Karl. Kain. Ich beschließe, sie ab jetzt Lisa zu nennen.
    Und jetzt, Lisa, sage ich zu ihr, fragst du mich: Und dann?
    Die Stille brummt wie ein Kühlschrank in Aktion. Ich ahme übertrieben quengelig ihre Stimme nach.
    Und dann?, quäke ich.
    Ich lausche zur Straße. Es ist nichts zu hören, kein Auto, nicht mal ein Fußgänger. Niemand kommt.
    Und dann, antworte ich in tiefem Bass, habe ich Jessie auf den Beifahrersitz des Mietwagens gepackt, und es spiegelte sich die Seitenansicht ihres Gesichts im Beifahrerfenster, und als sie irgendwo hinter Passau das Bewusstsein wiedererlangte, verkündete sie mir, dass sie jetzt eine Kombination aus Hund und Pony wollte, und wenige Tage später kauften wir Jacques Chirac, und ich ging täglich in die Leipziger Kanzlei und arbeitete an Dokumenten für die EU-Osterweiterung, ohne zu wissen, dass das in erster Linie der Neuverlegung einer Drogenroute diente, und Jessie blieb in der Wohnung, kümmerte sich um den Hund und freute sich darauf, dass ich abends käme, und ab und zu ging ich mit meiner Sekretärin ins Bett. Alles ganz normal.
    Nichts, absolut nichts zu

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