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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Jessie am Boden fand, wie ich nicht wagte, sie anzuheben, aus Angst, sie könnte sich die eine Seite des Kopfes weggesprengt haben und der Inhalt würde herauslaufen, wenn ich sie bewegte.
    Sofort ist mir wieder klar, was ich hier tue. Nämlich nichts. Nichts und wieder nichts. Ich reiße die Augen auf.
    Mein Blick bleibt an dem Kugelschreiber hängen, den der Techniker zwischen den Fingern dreht. Er schaut mich schon wieder an, aber sein Ausdruck hat sich verändert; vielleicht bin ich bleich geworden und er wundert sich. Ich wische mir den Schweiß ab. Der Kugelschreiber ist dick wie ein Frankfurter Würstchen und in grober Einteilung grellfarbig: gelb-rot-blau. Genau den gleichen hatte ich vor Ewigkeiten auch zu Hause, irgendein Werbegeschenk. Er lag gut in der Hand und schrieb weich. Mir fällt nicht mehr ein, wo ich ihn bekommen hatte. Der Techniker zwirbelt den Stift zwischen den Fingern, und ich kneife die Augen zusammen, um die vorbeiflitzende Aufschrift zu erkennen. Es gelingt mir nicht, das macht mich nervös. Mein eigener Stift war nicht bedruckt, so weit ich mich erinnern kann.
    Plötzlich fällt mir auf, dass er mir in die Augen sieht und auf eine übertriebene Art die Lippen bewegt. Er versucht, mir tonlos etwas mitzuteilen.
    Ich wollte nur helfen, lese ich.
    Und weil ich die Stirn runzele, formt er noch ein paar Silben:
    Der Jessie, lese ich.
    Natürlich ein Irrtum. Jessies Name ist überall, er wispert zwischen den Papieren der Telephonisten und wird von den Reifen jedes vorbeifahrenden Autos auf dem Asphalt gesungen, warum soll er nicht auch auf den Lippen dieses Vollidioten zu lesen sein. Ich habe eine Paranoia und bin stolz darauf. Ich schrecke auf, als Clara brüllt.
    Vielleicht liegt es daran, dass du einfach zu viel redest!!
    Sie hämmert auf eine Taste und schüttelt dabei wütend den Kopf. Auch der Techniker hat sich erschrocken; er stoppt den Stift, und ich beuge mich schnell vor, bevor er ihn fallen lässt, um zu lesen, was darauf steht: »I love Wien«. Das Wort »love« ist durch ein rotes Herz ersetzt.
    Super, denke ich, die Welt ist nur für mich arrangiert, und das mit einer solchen Detailverliebtheit.
    Ich muss lachen und schlage dabei die flache Hand auf den Tisch. Als ich aufschaue, steht Clara vor mir.
    Schön, dass du dich amüsierst, sagt sie.
    Sie lächelt ganz ohne Ironie, nett und eindimensional, so dass ich sofort an einfache Dinge denken muss, an Popcorn und Kino.
    Ja, sage ich.
    Der Kopfhörer hängt ihr um den Hals, das Kabel schleift am Boden. Sie sieht aus wie ein lebendig gewordenes Elektrospielzeug, das zu entkommen versucht. Noch ein paar Schritte, dann fliegt der Stecker raus und sie wird saftlos erstarren: aus der Traum. Im Hintergrund läuft ein Musikstück.
    Ich hole einen Kaffee, sagt sie.
    Sofort steht der Techniker auf.
    Ich mach schon, sagt er, bleib an deinem Platz.
    Der Techniker lässt den Kugelschreiber auf seinem Pult liegen. Ich stehe schnell auf und schiebe ihn in die Jackentasche.
    Hast du einen Musikwunsch, fragt Clara mich.
    Musik geht mir am Arsch vorbei, sage ich.
    Sie nickt.
    Ich geh jetzt, sage ich.
    Clara nickt immer noch, nimmt dem Techniker die Tasse ab und verschwindet wieder in ihrer Kabine. Ich nehme den Fahrstuhl nach unten, winke dem Pförtner zu, trete auf die Straße hinaus und komme noch mal zurück, um nach einem Taxi zu telephonieren.
    Plötzlich habe ich Lust auf einen Dauerlauf und setze mich in Bewegung, gerade als das Taxi um die Ecke biegt. Ich werde immer schneller, fummele ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und mache vergebliche Versuche, im Laufen eine anzustecken. Als ich stehen bleibe, höre ich das Taxi im Schritttempo hinter mir. Ich winke ihm, lege den Kopf in den Nacken, die kühle Nachtluft streicht mir über das Gesicht, und renne wieder los, lachend, ich wünsche, ich wäre auf einer endlosen Strecke, ohne Laternenpfähle, denen man ausweichen muss.

8 Tauben schießen
    A uf der Brücke bleibe ich stehen. Unter mir laufen die Eisenbahnschienen schnurgerade in das Gelände der Alten Messe hinein, die sich mit ihren weiten dunklen Betonflächen, den klotzigen Hallen und wenigen spitzen Türmen vor mir ausbreitet wie eine düstere Landschaft aus einem Endzeitfilm. Das Gebäude des Senders ist das einzige mit erleuchteten Fenstern.
    Die Straßenlaterne über meinem Kopf schaltet sich in unregelmäßigen Abständen an und aus. Ich hüpfe zweimal auf der Stelle, um auszuprobieren, ob der Wackelkontakt sich dadurch

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