Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
Vom Netzwerk:
immer mittwochs und sonntags um Mitternacht zu euch? Na wer? Wer es errät bekommt einen Punkt und wer heute eintausend Punkte sammelt kriegt meine Telephonnummer und für die anderen wird sie gleich angesagt. Es ist vierundzwanzig Uhr, ich bin ganz für euch da, wer einen Tipp braucht, kann mich anrufen. Die Sendung für Verzweifelte, für Nihilisten, Zurückgebliebene und Einsame, für Atomforscher, Diktatoren und das einfache Arschloch von der Straße. Hier reden wir gemeinsam ÜBER EINE KARGE WELT. Wer ich bin, wisst ihr.
    Schwungvoll wie ein Pianist beim letzten Ton eines schwierigen Laufs drückt sie eine Taste des Computers, Musik setzt ein und sie wirft sich zurück in ihren Drehstuhl, nickt rhythmisch mit dem Kopf und ändert ihre Haltung auch nicht, als einer der Telephonisten durch die Glastür tritt, mit einem Zettel in der Hand, und sich neben sie stellt. Die Tür der Kabine steht offen.
    Leitung eins bis drei Suizid, sagt der Telephonist, alles wegen Liebeskummer, dann zweimal Essstörungen, einer liebt die zehnjährige Nachbarstochter, ein Bankräuber in spe und jemand, der angeblich gerade seine Schwester mit dem elektrischen Brotmesser vergewaltigt hat.
    Ach der wieder, sagt sie.
    Ohne aufzusehen, streckt sie die Hand aus und lässt ihn den Zettel hineinlegen.
    Acht, vier, elf und fünf, in dieser Reihenfolge.
    Er nickt und verlässt die Glaskabine, um auf seinen Platz zurückzukehren. Im Nebenraum wechselt er ein paar Worte mit den anderen beiden, die ebenfalls nicken, Knöpfe drücken und in ihre Mikrophone sprechen.
    Der Techniker fixiert mich noch immer.
    Er klemmt jetzt also auf dem Objektträger vom Fräulein, sagt er plötzlich.
    Lieber Freund, sage ich, was meinst du damit?
    Schaun wir mal, sagt er, wie weit sie mit ihm kommt.
    Bevor ich antworten kann, beginnt das rote Licht wieder zu leuchten, und er muss die Stimme des ersten Anrufers abmischen. Ich überlege, ob ich aufstehen und ein bisschen hin und her gehen soll, nur um ihn zu ärgern. Ich könnte mir den einen oder anderen Knopf auf seinem Pult genauer betrachten und einen Regler betätigen, und er hätte keine Hand frei, um mich wegzuschubsen. Ich könnte zu Claras Kabine schlendern und an die Scheibe klopfen. Ins Nebenzimmer gehen und der Telephonistin in die Bluse greifen. Niemand hier kann sich wehren, sie hängen alle an ihren Geräten wie Intensivpatienten am Tropf.
    Clara spricht und schiebt sich dabei einen Zipfel ihres Hemdkragens ins Ohr, wozu sie den einen Kopfhörer leicht anheben muss. Ich habe es mir noch nie überlegt, aber eigentlich ist es einleuchtend, dass Radiomoderatoren in der Nase bohren, mit ungeputzten Zähnen am Mikrophon sitzen und sich am Hintern kratzen. So wie jeder Koch ins Essen rotzt, nur weil es keiner merken wird. Wie jeder LKW-Fahrer sich auf der Autobahn am Steuer einen runterholt, nur weil er höher sitzt als alle anderen und keiner in sein Fenster gucken kann.
    Claras Gelaber langweilt mich. Ihre Art, mit über die Lehne gehängtem Arm im Sessel zu lümmeln wie ein Vorstandsvorsitzender, geht mir auf die Nerven. Frau Huygstetten ich spreche gerade auf der anderen Leitung wozu haben Sie denn die Kontrolllämpchen an Ihrem Apparat? Entschuldigen Sie Max ich habe nicht aufgepasst. Schon gut schließen Sie bitte die Tür und machen Sie einen Kaffee.
    Ich war eben jung. Clara ist auch jung. Nach den ersten Wochen in Wien hörte ich wieder auf, die Plastikkarten in der Brieftasche nach Farben zu sortieren. Manche Kollegen ließen sich ein Jahr lang vom Display ihres Handys mit »Hallo Gott« begrüßen. Einmal bin ich Rufus auf dem Flur der Kanzlei begegnet und hatte meine Ray Ban auf. Er sagte nichts, lächelte nur. Aber seitdem blieben Handy und Brille in der Schublade, für Notfälle.
    Was mache ich eigentlich hier. Ich spüre, wie ich in eine dieser kurzen, trügerischen Phasen gleite, in denen ich plötzlich Gedankengänge erkenne, wie ich sie vor zwei Monaten noch gehabt hätte. Sie passen nicht mehr zu mir. Ich merke, wie ich mich nach Rufus zu sehnen beginne, nach den geordneten Abläufen in der Kanzlei. Alle Mitarbeiter dort, einschließlich der Sekretärinnen, waren sehr gutaussehend. Ich weiß nicht, ob es bei der Bewerbung eine Rolle spielte. Vermutlich betrachtete Rufus Hässlichkeit als ein Anzeichen von Inkonsequenz.
    In meinem gesunden Ohr beginnt es zu rauschen wie Fahrtwind beim Herunterstürzen aus großer Höhe. Ich schließe die Augen und zwinge mich, daran zu denken, wie ich

Weitere Kostenlose Bücher