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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Gesicht unnatürlich verlängert wird. Das sieht nach Ziege aus. Oder einfach nach Vollidiot. Quer durch seine Nasenscheidewand steckt ein Metallstab mit einer silbernen Kugel an jeder Seite.
    Irgendwie kommt er mir bekannt vor. Ich betrachte die dicke, künstlich glänzende Kette, die von dem schweren Portemonnaie in der hinteren Tasche seiner Sackhose nach vorne zum Gürtel läuft, und plötzlich fallen mir die beiden Gestalten wieder ein, die immer zu uns geschickt wurden, wenn es in der Kanzlei Probleme mit dem Intranet gab und wir den Service anriefen. Sie trugen auch solche Portemonnaies mit Kette an ihren Sackhosen, dazu kurze schwarze T-Shirts mit Heavy-Metal-Aufdruck, und wenn sie sich hinsetzten, sah man von hinten die Arschfalte über dem Hosenbund. Sie hatten CD-Spieler dabei, knallten sie neben unsere Computer auf den Tisch und setzten sich Kopfhörer auf, groß wie Ohrenschützer, die sie nur manchmal anhoben, um sich während des Tippens gegenseitig etwas zuzurufen, das die Musik betraf. Die Bildschirme nahmen eine ungewohnte, dunkle Farbe an, und es liefen Buchstaben und Zahlenketten darüber, denen sie nur schwache Beachtung schenkten. Ihre Rücken waren rund, sie benutzten die Lehnen der Stühle nicht, und sie tranken den Kaffee nicht, der auf Rufus’ ausdrückliche Anweisung für sie gekocht wurde. Nach einer Dreiviertelstunde liefen die Computer besser als vor dem Absturz, ohne dass auch nur der angefangene Brief einer Sekretärin verloren gegangen wäre, ganz zu schweigen von Verlusten in der Datenbank. Vermutlich hätten sich diese Typen mit dem linken kleinen Finger Zugang zu unserem gesamten Datensystem verschaffen können, und es war pures Glück, dass sie sich nicht dafür interessierten. Als ich Rufus einmal danach fragte, sagte er lachend, die beste Sicherung sei es heutzutage, kein zu gutes Sicherheitssystem zu haben, um die Hacker nicht herauszufordern. Die meisten von denen, sagte er, sind echte Künstler. Die interessieren sich nicht für Geld, sondern für die Ehre. Ich wusste nicht genau, ob er recht hatte damit.
    Es ist nicht auszuschließen, dass die Ziege hier auch auf diese Art mit Computern umgehen kann, und das verursacht mir ein gewisses Gruseln. Er schaut zwischendurch immer wieder von seinen Knöpfen auf und grinst mich an, als wüsste er etwas, das ich nicht weiß.
    Clara sitzt auf ihrem Platz hinter der Glaswand und blättert in irgendwelchen Papieren, während die Zeiger der Uhr über ihrem Kopf der Zwölf entgegenkriechen. Schon seit einer halben Stunde blinken die Lampen an der Telephonanlage im Nebenzimmer, zwei Männer und eine Frau nehmen die Anrufe entgegen und sprechen in Mikrophone, die am Bügel ihrer Kopfhörer befestigt sind. Die Mikrophone sehen aus wie dicke schwarze Blutegel, die sich im Mundwinkel niedergelassen haben, schmiegsam eingefügt, fast schon ein Körperteil. Clara hat auch so ein Ding, es hängt ihr um den Hals. Sie hat mich niemandem vorgestellt. Sie verhält sich, als wäre ich gar nicht da. Das gefällt mir. Ihr Haar hat sie eingeflochten zu einem dicken Zopf, sie trägt kniehohe Motorradstiefel und einen komischen roten, sehr kurzen Rock.
    Plötzlich geht über der Glastür eine rote Lampe an, der Techniker wirft sich seine Baseballmütze auf den Kopf, so dass sie oben auf der Vogelnestfrisur zu liegen kommt, dreht den Schirm in den Nacken und stürzt sich mit beiden Händen auf sein Pult. Clara beginnt zu reden.
    Ihr Tonfall ist wie sonst, beleidigt, trotzig, ständig durch schmollend aufgeworfene Lippen gesprochen. Erst jetzt stellt sich in meinem Kopf die richtige Verbindung her zwischen der Stimme, die ich schon länger aus dem Radio kenne, und der Stimme, mit der sie seit ihrem Auftauchen in natura zu mir spricht. Mir wird klar, dass es tatsächlich dieselbe ist. Plötzlich sehe ich wieder das andere Bild vor mir, die Frau mit den dunklen Haaren, über ein Tischmikrophon gebeugt: Clara, bevor ich sie zum ersten Mal sah. Jetzt, während ich der echten zusehe, wie sie beim Reden auf einer Computertastatur herumtippt, stirbt die andere endgültig, wird überlagert, verdrängt. Ich spüre einen ganz kleinen Verlustschmerz, wie ein Magenzwicken.
    Okay, sagt Clara, es ist wieder soweit, ihr wisst Bescheid, schaut einfach auf eure Uhr, ihr habt doch eine Uhr, oder, jeder hier hat eine Uhr, ich wette, ihr seid in diesem Moment von fünf bis neun Uhren umgeben, also schaut einfach auf eine von denen, dann seht ihr: Mitternacht. Und wer spricht

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