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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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beeinflussen lässt. Nichts. Ich beherrsche das Morsealphabet nicht, sonst könnte ich jetzt möglicherweise im Geflacker eine Botschaft empfangen. Die gleiche Botschaft, wie sie auch in den Spiralmustern entstehender Schlagsahne unter dem Rührgerät, in der Anordnung von Satellitenschüsseln an Häuserfronten und in Stadtplänen europäischer Großstädte zu lesen ist.
    Das Taxi wartet wenige Meter entfernt. Als der Fahrer den Gang einlegt, um wegzufahren, winke ich ihm erneut zu. Er rollt heran, er ist so klein, dass er gerade über den Rand seines Lenkrads gucken kann.
    Steigen Sie jetzt ein oder nich’?
    Er hat Angst. Ich sehe es ihm an.
    Schalten Sie das Radio ein, sage ich, ich nenne Ihnen die Frequenz. Lassen Sie die Beifahrertür weit offen, stellen Sie das Taxameter an. So viel Trinkgeld wie heute Nacht kriegen Sie die ganze nächste Woche nicht.
    Ein Zwanziger, den ich ihm durch das Fenster reiche, beruhigt seine Nerven. Das Radio geht an.
    Lauter, rufe ich, noch lauter, noch etwas, stopp, gut.
    Claras Stimme kommt aus dem Inneren des Taxis. Der Wagen hat eine gute Sound-Anlage, der Effekt ist verblüffend.
    Die Sendung kenne ich, ruft der Taxifahrer, das ist »Gespräche über eine karge Welt«.
    Halts Maul, sage ich.
    Der Taxifahrer klappt seinen Sitz zurück und legt die Beine seitlich auf das Armaturenbrett. Er trägt weiße Socken und Sandalen. Anscheinend gewöhnt er sich an mich.
    Ich lehne mich über das Geländer. Die Oberleitungen der Bahn sehen aus wie Fäden einer riesenhaften Spinne, die, ihre Seide hinter sich herziehend, die Stadt überquert hat, unbemerkt, ein träger, vielleicht etwas schwankender Schatten, für eine Gewitterwolke gehalten von einigen Nachtschwärmern und beim nächsten Blick in den Himmel bereits wieder vergessen.
    Auf Knopfdruck leuchtet das Zifferblatt meiner Digitaluhr tiefblau und eröffnet eine Enklave aus Künstlichkeit, Flüssigkristall und virtueller Sauberkeit. Die Uhr heißt Cockpit wegen der vielen Knöpfe, es ist Jessies Uhr. Ich habe sie ihr vorsichtig vom Handgelenk gelöst, weil ich wusste, dass sie es nicht ertragen hätte, wenn Cockpit mit ihr zusammen begraben worden wäre, ohne selbst tot zu sein. Die Uhr war ein Geschenk von mir. Jessie lief oft damit in der Wohnung herum und drückte die verschiedenen Knöpfe, ohne die Funktionen zu begreifen. Nie lernte sie, den integrierten Wecker zu stellen oder das Datum richtig abzulesen. Aber immer wieder war sie entzückt, wenn es zur vollen Stunde piepste, und dann antwortete sie mit »Hallo Cockpit«, und ich musste ebenfalls grüßen, wenn ich sie nicht verärgern wollte.
    Einmal habe ich auch meiner Mutter eine Uhr zum Geburtstag geschenkt. Sie war entsetzt und sagte, wenn man jemandem eine Uhr schenkt, dann läuft seine Zeit ab. Ich lachte sie aus.
    Es ist halb eins.
    Die Hälfte geschafft, sagt Clara, ich hab keinen Bock heute, ihr merkt es schon. Es ist schwül. Hier drin jedenfalls. Was wollt ihr überhaupt von mir? Immer wollt ihr was wissen. Was wollt ihr wissen? Wie das Wetter ist? Kann ich euch sagen: dunkel. Es ist dunkles Wetter und die weiteren Aussichten: weiterhin dunkel bis etwa fünf Uhr, dann zunehmende Helligkeit und gegen später Tageslicht. Und noch schwüler als jetzt. Schätzungsweise.
    Sie macht eine viel zu lange Pause, man hört, wie sie sich mit irgendetwas in den Zähnen stochert. Ihr Atem pustet schwer und rauschend wie ein Bunsenbrenner ins Mikrophon.
    Okay, sagt sie, den Rest der Zeit kriegen wir auch noch rum.
    Ich frage mich, hinter welchem der erleuchteten Fenster sie sitzt. Wenn ich mein Fernglas hier hätte, könnte ich wenigstens den grünen Ascona auf dem Parkplatz ausmachen, vielleicht sogar das richtige Fenster finden. Es ist ein handliches, aber sehr leistungsstarkes Ding, mit freier Hand kaum ruhig zu halten, trotz des Stabilisators. Ich trage es seit vierzehn Jahren mit mir herum, als eine Art Glücksbringer, und wenn ich es mal bräuchte, ist es nicht da.
    Das Fernglas lag auf der Ablage vor dem Garderobenspiegel, im Eingangsbereich einer Wohnung, die Jessies Vater gehörte. Das Haus stand am Hohen Markt, kaum eine Minute vom Stephansplatz entfernt, und überragte alle seine Nachbarn um ein ganzes Stockwerk. Anstelle einer Eingangstür hatte es ein zweiflügeliges Tor, durch das früher die Kutschen gefahren waren. Es öffnete sich lautlos, wenn man einen bestimmten Schlüsselanhänger mit Sender besaß.
    Wir waren breite Steinstufen mit Marmoreinsätzen

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