Adler und Engel (German Edition)
hinaufgestiegen. Die Treppe hatte ein dickes Steingeländer und krümmte sich widerwillig in den ersten Stock hinauf, jeden Moment schien sie in ihre unverbogene Ursprungsform zurückschnappen zu wollen. Wir landeten auf einer Galerie, an deren Ende sich ein kleiner moderner Fahrstuhl befand. Mit diesem fuhren wir in die oberste Etage.
Im Garderobenspiegel betrachtete ich voll Abscheu meine Akne und sehnte mich nach einer Dusche. Jessie trat hinter mich. Sie hatte einen grünen Jägerhut aus Filz über beide Ohren gezogen und legte den Kopf in den Nacken, um unter der Krempe hervorblinzeln zu können. Das Fernglas nahm sie an sich, dann fasste sie einen Zipfel meines Hemds und zog mich mit sich. Hinter uns klapperte ein blank polierter, geschnitzter Spazierstock über den Boden.
Wir durchquerten ein quadratisches Wohnzimmer, in dessen Mitte sich ein persischer Teppich wie ein Schiffbrüchigenfloß auf offener See verlor. Irgendwo dahinter verschwamm eine Sitzgruppe in der Ferne. Wir traten auf einen Balkon, die Tür ließ die fast meterdicke Stärke der Hausmauern erkennen. Wir waren hoch über der Stadt.
Jessie gab mir den Stock zu halten, stützte eine Hand auf die Brüstung und hüpfte hinauf. Als sie die Beine hinüberschwang und nach außen baumeln ließ, fasste ich ihr reflexartig um die Schultern, und sie schüttelte meine Hände ab, als hätte ein Tier sie angesprungen. Vor etwa einem halben Jahr war sie vierzehn geworden.
Sie schob den Hut in den Nacken, um die Augen freizubekommen, und hob das Fernglas. Ich drehte den Stock hin und her.
Dein Vater jagt wohl, fragte ich.
Sie antwortete undeutlich, fast ohne die Lippen zu bewegen, zwischen konzentriert zusammengepressten Zähnen.
Natürlich jagt er.
Mit dem Zeigefinger bewegte sie das Rädchen zwischen den Okularen, um die Schärfe auf irgendein Ziel zu fokussieren. Hinter uns im Raum ertönte ein Knacken, ich wandte mich um und sah Shershah wie einen Panther an den Wänden entlangschleichen, misstrauisch die Bilder betrachtend. Er probierte die Tür an einem Schrank und tastete den Bezug einer Sessellehne ab.
Gib mir das Gewehr, nuschelte Jessie.
Ich brauchte eine Weile, um zu kapieren, und sie stieß ungeduldig mit dem Ellenbogen nach mir. Ich reichte ihr den Stock, und sie gab mir dafür das Fernglas.
Nicht die Schärfe verstellen, befahl sie.
Sie presste die rechte Backe gegen den Spazierstock, ein Auge zusammengekniffen. Ich hob das Fernglas in die Richtung, die sie angepeilt hatte, und mir knallte die Kuppel der Karlskirche so unerwartet nah ins Gesicht, dass ich zurückfuhr. Es war faszinierend. Mit bloßem Auge war nur ein kleiner kupfergrüner Halbkreis zu erkennen, wie die obere Hälfte einer angelaufenen Münze, irgendwo hinten zwischen den Häusern im Panorama steckend und fast verdeckt vom großflächigen, gemusterten Dach des Stephansdoms im Vordergrund. Mit dem Fernglas aber konnte ich am unteren Rand der Kuppel entlangfahren und eine Gruppe dicker Tauben beobachten, die sich mit geblähten Hälsen ruckartig voreinander verbeugten.
Peng!!, rief Jessie.
Sie riss den Stock senkrecht in die Luft, einen Rückstoß imitierend. Die Tauben flogen auf. Das Fernglas zeigte mir ein paar Flaumfedern, die sich langsam auf den Sims hinuntersenkten.
Was siehst du, was siehst du, rief sie lachend, hab ich getroffen?
Ich bemerkte Shershah hinter uns in der Balkontür, offensichtlich stand er schon seit ein paar Sekunden da. Er hatte eine eckige, bronzebraune Flasche im Arm, wahrscheinlich in einem der Schränke gefunden.
Oh Mann, stöhnte er genervt.
Sein Blick traf sich mit Jessies und sie hörte auf zu lachen und rutschte von der Brüstung. Sie nahm mir das Fernglas aus der Hand und brachte es zusammen mit Stock und Hut auf seinen Platz zurück. Ich nahm mir vor, mich bei nächster Gelegenheit mit dem Wunderding auf den Balkon zu stellen, einen dicken Joint zwischen den Lippen und einen ganzen Nachmittag vor mir.
Am Ende unseres Aufenthalts habe ich es mitgehen lassen. Jessies Vater traf das mit Sicherheit nicht allzu hart.
Zwei Anrufer werden abgefertigt, ohne dass ich es richtig wahrnehme. Ich kann mich nicht konzentrieren. Ich sniefe Koks vom Taschenspiegel, und mein Kopf öffnet sich zu einem großen weiten Raum, in dem die Schwalben kreisen auf Mückenjagd und die Mücken kreisen auf Amöbenjagd. Der Taxifahrer lacht, offensichtlich ist Clara witzig. Er klopft sich sogar den Schenkel.
Bevor wir weitermachen, sagt Clara, habe ich
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