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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Gelaber raubt mir den letzten Nerv, wahrscheinlich glaubt sie, noch auf Sendung zu sein.
    Pass mal auf, sage ich, ich will noch ein paar Aufnahmen machen. Könntest du vielleicht woanders hingehen? Zu einer Freundin? Oder spazieren.
    Es ist drei Uhr morgens. Claras Blick wird ein bisschen schärfer, wir fixieren uns wie Duellanten.
    Tonbandaufnahmen, sage ich, meine Lebensgeschichte. Die WILLST du doch unbedingt haben.
    Als ich schon annehme, sie sei mit offenen Augen und starrem Blick eingeschlafen, erhebt sie sich schwankend. Sie hält sich am Couchtisch fest, am Regal, an meiner Schulter. Ich bringe sie zur Wohnungstür. Sie greift nach der Hundeleine.
    Nee du, sage ich, Jacques Chirac bleibt hier. Mit ihm kann ich mich besser konzentrieren.
    Mühsam quetscht sie sich in ihre Stiefel.
    Also bis später dann, sage ich, in ein, zwei Stunden oder so.
    Ich mache ihr das Licht im Treppenhaus nicht an. Als die Tür zugefallen ist, höre ich draußen einen dumpfen Schlag, sie ist gegen die Wand gelaufen. Ich kann nicht anders, ich nehme die Hand vor den Mund wie ein kleines Kind und fange an zu kichern.

9 Wien
    I n den Ferien begleite ich Jessie für eine Zeit nach Wien, sagte Shershah, willst du mit?
    Die Sommerferien waren immer ein Problem. Geld und Gelegenheit zum Wegfahren fehlten, und zu Hause traf ich in allen Ecken auf die Schrecken meiner Kindheit. Es gab dort die Couch und den Fernseher und die Lust meiner Mutter, mich von morgens bis abends mit Fertigprodukten zu füttern. Es war ein Zwang: für sie, mich vollzustopfen, mich zum Essen zu drängen, bis ich nicht mehr in der Lage war, die Couch zu verlassen, und für mich, zu essen, was sie mir gab. Es war das Einzige, was wir miteinander zu tun hatten. Das ging drei Wochen, bis ich mehrmals täglich kotzte, irgendwann ausrastete und um mich zu schlagen begann. Dann packte sie mich in den Daimler und fuhr mich für die zweite Hälfte der Ferien in ein Heim für Essgestörte.
    Natürlich wollte ich mit nach Wien, auch wenn klar war, warum Shershah mich fragte. Weder er noch Jessie besaßen ein Auto oder auch nur einen Führerschein. Die anderen, Söhne von Ärzten, Professoren und Teppichhändlern, hatten zwar Autos, aber sie mieteten im Sommer Katamarane und teilten die Kosten. Sie fuhren mit Sicherheit nicht nach Wien.
    Es machte mir nichts aus. Ich war daran gewöhnt zu tun, worum man mich bat. Ich verlieh meine Sachen. Ich erledigte Besorgungen in der Stadt, ich holte Mädchen vom Flughafen ab und fuhr sie zu ihren Freunden. Die Freundlichkeit, die ich dafür bekam, unterschied sich in nichts von jeder anderen Freundlichkeit auf der Welt. Ich war dabei. Es gab viele andere, die nicht dabei waren.
    Jessie fuhr gern in meinem Wagen mit. Es war ein uralter Fiat Uno, rot, ich hatte ihn zusammen mit dem Führerschein zum achtzehnten Geburtstag bekommen und in den acht Monaten danach bereits zwanzigtausend Kilometer gefahren. An den Wochenenden nach Amsterdam, an normalen Abenden oft die Autobahn Köln–Bonn, einfach so, hin und her.
    Auf den Spritztouren nach Holland waren wir meistens mit mehreren Autos unterwegs, ein paar schwarze GTIs oder GTEs und mein alter Fiat. Jessie lackierte sich für diese Anlässe die Fingernägel, so dass sie sich wie zehn kleine runde rote Käfer von der Kopfstütze des Beifahrersitzes abhoben, die sie während der Fahrt umklammert hielt. Nur ich bemerkte, wie sie schnell den Kopf zum Fenster wandte, wenn Shershah behauptete, mit den lackierten Nägeln sehe sie aus wie eine vom Kinderstrich. In Amsterdam ließ er sie im Auto warten, während die anderen ihre Einkäufe machten. Sie besorgten alles außer Koks, das sie bei Jessie kauften, obwohl es teurer war. Danach fuhren wir ans Ijsselmeer, wo irgendjemand einen Bungalow besaß, und dort lag ich anderthalb Tage lang am Wasser, benebelt vom Kiffen und vom Plätschern der Wellen, und sah Jessie zu, die Figuren legte aus Kieselsteinen. Ich beobachtete, wie ihr Nagellack langsam abblätterte, Stück für Stück, und stellte mir vor, wie ich ihre Finger zwischen meine nehmen könnte, ganz vorsichtig, um mit sanftem Kratzen die Lackreste zu entfernen. Jessie war das einzige Mädchen in der Clique. Niemand beachtete sie. Sie war einfach da. Shershah brachte sie mit, mehr gab es dazu nicht zu sagen.
    Ich wusste, dass es wahrscheinlich einen besonderen Grund gab für Shershah, nach Wien zu fahren, und ich wusste, dass ich nur wegen des Autos dabei sein würde. Ich freute mich

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