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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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Matratze gerückt. Als wir am ersten Tag die CDs fanden, verbrachten Shershah und ich eine halbe Stunde damit, auf dem Rand der Matratze zu sitzen und die schillernden Oberflächen zu bestaunen. Erst nachdem wir genug gesehen hatten, ließen wir ein paar Mal das CD-Fach raus- und reingleiten, legten die erste der glänzenden Scheiben ein und schlossen die Augen.
    Irgendwann stießen wir auf eine Sammlung von Barockmusik und fanden ein Stück, das wir alle mochten. Pachelbel. Es verwandelte mein Herz in eine Supernova, jedes Mal wenn die ersten Takte erklangen. Das Stück war etwa fünf Minuten lang. Wir stellten die Repeat-Funktion ein, und der CD-Spieler wiederholte es zwei Tage lang. Wenn jemand schlafen wollte, drehte er die Lautstärke ein bisschen herunter. Nach der fünfzigsten Wiederholung fing Jessie an zu weinen, ihr Gesicht kniff sich zusammen wie bei einem Säugling, der nachts erwacht und die Mutter nicht findet. Die Sonne fraß ihr die Tränen vom Gesicht, kaum dass sie das Auge verlassen hatten. Ich tat weiterhin so, als würde ich durch das Fernglas sehen, und sagte nichts. Es war ja nur wegen Pachelbel, wegen Cembalo und Geigenschluchzen. Nach einer halben Stunde hörte sie wieder auf.
    Immer wenn die Kopfschmerzen zu stark wurden, verließ ich den Balkon, legte das Fernglas oben auf die Stereoanlage und schubste Shershah zur Seite, damit er mir Platz machte auf der Matratze. Er drehte ununterbrochen zahnstocherdünne Zigaretten, die mit einer Mischung aus Tabak und Gras gefüllt waren, gut schmeckten und das Gehirn flüssig kochten, bis man glaubte, es würde zu den Ohren hinauslaufen und verdunsten. Ich sank dann in einen Schlaf-Wach-Zustand, in dem der Ventilator immer näher kam und sich schließlich an der Innenseite meines Kopfes installierte; er wirbelte mit seinen langen Flügeln die Bilder durcheinander, die ich mit dem Fernglas der Stadt abgenommen hatte. Manchmal drang durch den Farbendunst plötzlich das schrille, ungeduldige Kreischen und Quieken, das Jessie von sich gab, wenn es ihr nicht gelang, den Segelknoten zu lösen, mit dem ich sie an der Metallöse festgebunden hatte. Dann stand einer von uns taumelnd auf, bohrte einen schlaffen Zeigefinger zwischen die festgezurrten Stoffschlingen der Krawatte und zog schließlich mit den Zähnen den Knoten auseinander, bis Jessie frei war und den Balkon verlassen konnte. Manchmal kroch sie dann, klein und aufgeheizt von der Sonne und mit knallroten Augen, zu uns auf die Matratze, zwischen unsere vier Beine, zupfte an den Haaren auf unseren Schenkeln, kitzelte uns zwischen den Zehen und plapperte unablässig, ohne dass jemand sie verstand.
    Nach vier Tagen wurde sie wirklich penetrant. Ständig wiederholte sie einen Satz: Aufstehen durch die Stadt gehen, Aufstehen durch die Stadt gehen. Eine Weile konnte Shershah sie mit seinem »Halts Maul, verdammt« in Schach halten. Dann kämpfte er sich hoch und schlug nach ihr. Sie wich aus und warf sich zur Seite wie ein junger Hund, begeistert kichernd und mit Armen und Beinen stoßend, überrollte dabei meine Schienbeine, dass ich dachte, sie brächen durch, und so kam auch ich hoch in sitzende Position. Es war ausgerechnet gerade um die Mittagszeit, die Sonne stand senkrecht, die Stadt schien schattenlos.
    Im Bad stellte ich mich unter die kalte Dusche, bis ich sicher war, blutleer zu sein und nie mehr so etwas wie Wärme empfinden zu können. Dann stieg ich aus der Wanne, band meine Haare oben auf dem Kopf zusammen und hielt mich am Waschbecken fest, bis ein kurzer Schwächeanfall vorüberging und das Gesichtsfeld sich wieder klärte.
    Eine aus meinen Shorts rinnende Tropfspur zeichnete den Weg zurück ins Wohnzimmer, wo Shershah inzwischen die Matratze geräumt hatte und auf dem Balkon stand, blinzelnd in die Sonne schaute und die Stadt durch seinen Blick zur Wildnis machte. Auf der Matratze saß Jessie allein, mit ausgestreckten Beinen, gebeugtem Rücken und hängendem Kopf. Als sie mich sah, heiterte ihre Miene sich auf, sie zeigte mit ausgestrecktem Finger auf meine Hochfrisur und fing an zu prusten.
    Schließlich schleppten wir uns in den Fahrstuhl und die Marmorstufen hinunter. Jessie sorgte dafür, dass die riesigen Torflügel sich öffneten. Wir prallten gegen die Hitze wie gegen einen unsichtbaren Abwehrschirm. Die Stadt wollte nicht betreten werden. Wir schafften es dennoch auf die Gasse hinaus. Die Stille war absurd im Zentrum einer Großstadt, wie auf freiem Feld, nur ohne Grillen.
    An

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