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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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trotzdem.
    Während der Fahrt schlief Shershah hinten auf der Rückbank. Jessie kletterte nach vorne, drehte Zigaretten für uns beide und ließ sich im Spaß von mir schimpfen, weil die Kippen immer noch krumm und labberig gerieten. Wir hörten Musik, alle Fenster waren heruntergekurbelt, dreißig Grad im Schatten. Ich gestand ihr, dass ich früher immer »Cooper« genannt werden wollte und niemanden, weder meine Mutter noch meine Klassenkameraden, dazu überreden konnte. Sie bettelte, meinen langen Pferdeschwanz einflechten zu dürfen, bis ich es ihr erlaubte, und sie machte sich ans Werk und knotete meine Haare zusammen, ohne dass ein Zopf daraus wurde. An der Grenze ließ man uns aussteigen und durchsuchte das Gepäck. Ich schwitzte Blut und Wasser. Aber sie waren sauber, alle beide. Ich begann zu verstehen, dass Jessie ein Profi war.
    In Wien stieg die Temperatur auf über vierzig Grad. Die Stadt lag flach wie ein Mensch kurz vor dem Fiebertod, reglos, ausgetrocknet, unter der Oberfläche halluzinierend. Am Stubenring hingen an einigen Gebäuden fassadengroße schwarze Plakate mit Totenköpfen, die vor dem Autofahren warnten. Das Radio brachte alle fünfzehn Minuten Ozonalarm, man diskutierte Ausgangssperren für die Mittagszeit. Die Krankenwagensirenen heulten unablässig durch die Stadt, die Alten starben.
    Wir hingen trotzdem auf dem Balkon herum. Ich lehnte über der Brüstung, um mit dem Fernglas Ausschnitt für Ausschnitt die Stadt abzusuchen, in winzigen Planquadraten, die durch das Glas bildfüllend wurden, dicht vor meinen Augen. Ich hatte ganz rechts begonnen, wo ich die Spitze der Votivkirche sehen konnte und Teile der Universität, hatte die geklöppelten Türme des Rathauses untersucht, die Rückseite des Burgtheaters und natürlich das Portal des Parlaments studiert, und ich wollte bis ganz links kommen, mich vom Dom nicht stören lassen, der einen Teil der Sicht verstellte, wollte über Belvedere und Südbahnhof hinweg Richtung Südosten schauen, wo der Zentralfriedhof lag, den ich nicht sehen, nur erahnen konnte am Fehlen von Dächern. Ich betrachtete alles, Fenstersimse, Antennen, die Winkel zwischen Schornsteinen, Giebel, die Hofburg, Kuppeln verschiedener Art, und manchmal erlaubte eine Baulücke den Blick auf eine entfernte Straßenecke, ausgestorben wegen der Hitze. Dann wartete ich minutenlang auf einen Passanten. Ich sah die Nistplätze der Tauben, Studentinnen in Dachwohnungen und an bestimmten Stellen in der Ferne kleine Fetzen vom Wienerwald. Ich sah die Stadt, Zentimeter für Zentimeter.
    Jessie saß rechts von mir, auf der kurzen Seite der Steinbrüstung, mit dem Rücken an die Hauswand gelehnt. Sie hatte immer kurze weiße Baumwollshorts an, auf deren linke Seite die Umrisse einer schwarzen Bulldogge gedruckt waren, und ein ärmelloses Hemdchen, das sie hochschob bis knapp unter den kaum vorhandenen Busen. Sie sonnte sich, obwohl im Radio viertelstündlich vor Hautkrebs, Hitzschlag und Kreislaufkollaps gewarnt wurde. Ihre Haut wurde nicht rot, sondern dunkelte in verschiedenen Graustufen Richtung schwarz, als würde sie am ganzen Körper von einer dicker werdenden Staubschicht bedeckt. Um ihre Taille war eine Schlaufe gebunden. Diese bestand aus zwei Krawatten, die ich im Schrank ihres Vaters gefunden und zusammengeknotet hatte. Die Enden hatte ich an einer der Metallösen befestigt, die in der Hauswand verschraubt und früher wahrscheinlich zum Hochbinden von Kletterpflanzen benutzt worden waren. Der Krawattengurt ermöglichte es mir zu glauben, sie könne nicht abstürzen und fünf Stockwerke weiter unten in der Gasse aufschlagen. Ich konnte sie nicht davon abbringen, dort zu sitzen. Ich stritt so lange, bis sie mir wenigstens erlaubte, sie anzubinden.
    Wir hatten die große Doppelmatratze im Schlafzimmer des Vaters aus dem Bett gezerrt, Kissen und Decken beiseite geworfen und sie ins Wohnzimmer geschleppt, in die Mitte des Raums, zehn Schritte von der Balkontür entfernt. Über dieser Stelle drehte sich an der Zimmerdecke lautlos und träge ein langflügliger Ventilator. Direkt darunter auf der Matratze, Arme und Beine ausgestreckt wie der perfekte Mensch im Kreis Leonardo da Vincis, lag Shershah mit halb geschlossenen Augen, eine Kippe oder einen Joint im Mundwinkel, dessen Ascheschwanz gelegentlich abbrach, wenn er zu lang wurde, und mit glühendem Kern auf das Laken fiel, dicht neben Shershahs Hals. Wir hatten die Stereoanlage samt Boxen aus dem Regal geholt und neben die

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