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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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wirklich aufgeregt, ihre ganze telephonische Erscheinung steht in krassem Gegensatz zu meiner eigenen Verfassung, ich bin leer, verloren irgendwo zwischen Wien, Bari und dem sonnengelben Pyjama.
    Gut, gut, flüstere ich.
    Ich will keinen Streit, nicht jetzt. Ich muss ihr erzählen, was mit meiner Wohnung passiert ist. Als sie weiterschreien will, versagt ihr die Stimme wie ein Paar angeschossener Knie; sie knickt immer wieder ein mit einem schluchzenden Geräusch.
    Pass auf, kiekst sie, du hast dich zu entscheiden, und zwar JETZT. Genau jetzt sagst du mir, ob du weiterarbeiten willst ODER NICHT.
    Sie schnieft, ich höre ein leises knorpeliges Knacken, was davon herrühren kann, dass sie sich heftig die Nase mit dem Handrücken reibt.
    Klar, klar, sage ich, alles, was du willst.
    WAS!!, brüllt sie.
    Bleib wo du bist, sage ich, ich komme vorbei. Wo bist du jetzt?
    Im Café Josephine, schluchzt sie, ich stehe an der Bar und alle glotzen mich an.
    Plötzlich tut sie mir leid, sehr leid, mehr als ich mir selber leid tue.
    Nicht bewegen, sage ich, ich hole ein Taxi und bin in fünf Minuten bei dir.
    Sie legt auf. Ich schnappe den Recorder und den Hund und sprinte die Treppe hinunter.
    Fast hätte ich sie nicht erkannt. Ihre Wimperntusche hat sich verflüssigt und läuft über das Gesicht, in zwei unregelmäßigen schwarzen Streifen, die sich nach unten auffächern wie Flussdeltas. Zwischen Nase und Mund verläuft quer dazu eine gerade Spur, wo sie sich mit dem Ärmel abgewischt hat. Als hätte sie ihr eigenes Gesicht durchstreichen wollen. Ihre Haare waren zu einem Knoten aufgesteckt, jetzt fallen überall Strähnen heraus und stehen wirr um den Kopf herum. Sie muss getobt haben. Der Barkeeper wirft mir bedeutungsschwere Blicke zu, während ich mich ihrem Tisch nähere. Sie sitzt zusammengesunken vor der kleinen runden Marmorplatte, auf der, genau in der Mitte, ein leerer Aschenbecher steht. Ein Glas oder eine Tasse sind nicht zu sehen. Sie begrüßt noch nicht einmal Jacques Chirac, der sich enttäuscht abwendet. Nur um etwas zu tun zu haben, fange ich an, ihren Kopf zu streicheln. Aber Kopfhaar, diese trockene, abgestorbene Ansammlung verhornter Zellen, ist eigentlich wirklich der abstoßendste Teil des menschlichen Körpers, ein vorzeitiges, andauerndes Krepieren und Ausfallen, ein Massengrab. Ich ziehe meine Hand zurück, ein paar elektrisch aufgeladene Haare folgen meinen Fingern, und ich schüttele sie ab, als hätte ich in ein Spinnennest gegriffen. Das Vanillearoma ihres Haarshampoos klebt an meiner Hand.
    Ich bestelle ein Glas Wasser und einen Stapel Papierservietten. Bis der Kellner zurückkommt, sitzen wir regungslos, und ich weiß weder, woran sie denkt, noch, woran ich denke.
    Ich tunke eine Serviette in das Glas, drehe Claras Gesicht mit einer Hand zu mir herum und reibe an den schwarzen Streifen. Die Serviette färbt sich sofort dunkel, ohne dass die Streifen wesentlich heller würden. Mit neuen Tüchern und mehr Wasser erziele ich eine gleichmäßig graue Einfärbung ihrer Wangen. Sie ist so schlaff, dass ich ihr Kinn eisern festhalten muss, um den nötigen Widerstand zum Wischen und Reiben zu haben. Als ich endlich zufrieden bin, hat sie feuerrote Backen, was sie lebendiger aussehen lässt. Ich fühle mich besser.
    Clara, sage ich.
    Sie fängt sofort wieder an, sich aufzuregen.
    Das Ganze ist dir scheißegal, quietscht sie, es interessiert dich überhaupt nicht.
    Da hast du recht, sage ich, aber das ist doch nicht so schlimm.
    Sie starrt mich an, und ihre beiden Augen, das linke wie Himmel und das rechte wie Wasser, sind rötlich verschmutzt.
    Guck, was ich dir mitgebracht habe, sage ich.
    Ich greife in die Jacketttasche und lege die Sicherheitsdiskette und die Tonbänder vor ihr auf den Tisch.
    Es tut mir leid, sage ich.
    Sie schüttelt den Kopf, ihre Augen werden schon wieder nass.
    Aber ich kann nicht mehr, sagt sie, wirklich nicht mehr. Vielleicht hat der Prof recht und ich bin einfach zu schwach.
    Ach come on, sage ich.
    Ich hebe die Hand, ohne Clara aus den Augen zu lassen, und bestelle zweimal Wodka, pur, doppelt. Tiefgekühlt. Die Gläser sind beschlagen und dampfen vor Kälte. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen.
    Lecker, sage ich. Trinken.
    Wir stoßen an. Sie schluckt alles auf einmal, schüttelt sich und keucht.
    Ich komme gleich wieder, sage ich.
    Im Herrenklo knie ich mich vor die Schüssel, beschlage den Klodeckel mit meinem Atem, poliere ihn mit einem Büschel Klopapier und ziehe dann

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