Adler und Engel (German Edition)
eine Linie.
Sie hat zwei frische Gläser nachbestellt und lächelt mich an, als ich mich setze. Ich strahle zurück.
Weißt du, sage ich, du schaffst das schon.
Wir stoßen an und kippen den Wodka. Ich werde darauf achten, heute nicht die Schwelle zum Filmriss zu überschreiten. Ich will klar bleiben. Sie gibt dem Kellner ein Zeichen, dann steht sie auf.
Entschuldigung, sagt sie, bis gleich.
Als sie zurückkommt, sind ihre Haare geordnet und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie kann in ihrer engen Hose keinen Kamm verstecken, also muss sie die Knoten mit den Fingern auseinander gerissen haben.
Wenn du jetzt zuhörst, sagt sie, dann erzähle ich dir noch mal, was mein Prof gesagt hat.
Prima, sage ich.
Er hat sich meine Aufzeichnungen mehrmals durchgelesen, sagt sie, und er meint, dass ich aufgrund innerer Vorbehalte, die in meiner eigenen Ich-Schwäche begründet sind, nicht bereit bin, die vollständige Identifizierung zuzulassen, die für eine solche Studie notwendig ist.
Alle Achtung, sage ich bewundernd, das ist aber ein erlesener Schwachsinn.
Finde ich auch, sagt sie. Er denkt, er hätte mich vielleicht überschätzt, dabei habe ich ihm erzählt, dass du mich sogar von Zeit zu Zeit schlägst!
Und das reicht ihm wohl nicht, sage ich, als Beweis für unser gemeinsames, rückhaltloses Engagement.
Mich überschätzt!, ruft sie. Mich kann man überhaupt nicht überschätzen, bei mir gibt es nach oben keine Grenzen. Ich bin wie ein Turm mit starken Mauern, aber ohne Dach.
Das nennt man dann einen Brunnen, wende ich ein.
Er soll sich mal die anderen ansehen, sagt sie, die sitzen im Institut und saugen sich die hunderttausendste Abhandlung über C. G. Jungs Frauenbild aus den Fingern.
Was will er denn nun von dir, frage ich.
Tja, das ist genau die Frage, sagt sie. Ich zitiere wörtlich: Fräulein Müller, Sie wollen ihr Diplom und ich will das Wesentliche. Das Wesentliche der Geschichte von diesem Mann.
Und was ist das?
Eben, sagt sie, das weiß nur er allein.
Und warum in aller Welt nennt er dich Fräulein Müller?
An der Uni nennen mich alle Lieschen Müller.
Was bitte, frage ich, soll denn der Scheiß?
Sie hebt den Hintern vom Stuhl und fummelt an der Gesäßtasche ihrer Jeans herum, bis es gelingt, den Personalausweis herauszuziehen. Auf dem Bild ist ihr Haar etwas kürzer, ansonsten sieht sie sich recht ähnlich. Lisa Müller, 28.2.1976, steht daneben.
Alles klar?, fragt sie.
War 1976 ein Schaltjahr?
Wieso?
Vergiss es, sage ich. Nur die Hoffnung, dass du um ein Haar nicht geboren worden sein könntest.
Was, fragt sie, soll ich denn jetzt machen?
Leg dich doch mal wieder in die kalte Badewanne, sage ich.
Alles deine Schuld, flüstert sie, weil du nicht verrückt genug bist.
Ich rücke mit meinem Stuhl näher an sie heran und packe den DAT-Recorder aus.
Ich bin verrückt genug, sage ich. Sei jetzt ruhig und hör dir das neue Band an.
Ich gebe ihr den linken Ohrstöpsel, den rechten nehme ich selbst. Vom Band sind raschelnde und klackende Geräusche zu hören, gefolgt von atmosphärischem Brausen, wenn ich zu nah ans Mikrophon herangekommen bin.
Max, sagt sie, oder Cooper oder wer auch immer.
Psst, sage ich.
Ich will das Band hören und ich will, dass sie es auch hört.
Kapierst du nicht, fragt sie, dass das alles keinen Sinn hat, wenn mein Professor dich nicht für ein geeignetes Thema hält?
Ich stöhne und drücke die Stoptaste.
Clara, sage ich ruhig, oder Lisa oder wie auch immer, hast du ihm schon gesagt, dass ich einen Menschen umgebracht habe?
Sie erstarrt auf ihrem Stuhl, als wäre sie es, die in dieser Sekunde von einer Kugel getroffen wird. Man hört förmlich die Räder arbeiten in ihrem Kopf.
Hast du also nicht, sage ich, du bist ja sowas von dumm.
Das – das, flüstert sie, habe ich doch gar nicht geglaubt.
Es stimmt aber, sage ich. Und jetzt sei ruhig.
Sie lächelt mich entzückt an, als wäre ich ihr Bräutigam und wir ständen gerade auf der Kirchentreppe. Dann legt sie ihre Hand auf meine.
Danke, sagt sie.
Der Kellner bringt mehr Wodka, wir stoßen an.
Endlich schließt sie die Augen und lehnt sich zurück, so dass das Kabel des Kopfhörers sich zwischen uns spannt. Meine Stimme beginnt vom Band zu sprechen. Die Lampe in meinem Rücken wirft mir Licht über die Schulter; ich verschränke die Daumen, spreize die übrigen Finger und bilde so eine Spinne, deren Schatten ich über den Boden laufen lasse, leicht zittrig, mit tastenden Vorderbeinen,
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