Adler und Engel (German Edition)
hochstehenden Gelenken und schwankendem Körper. Sie klettert an Clara hinauf, bis ins Gesicht, und die Augenlider zucken, als könnten sie die Berührung des Schattens spüren. Clara beginnt zu lächeln, als schliefe sie und träumte etwas Angenehmes. Ich bilde mir ein, dass sie gerne meiner Stimme vom Band zuhört, dass sie das mag, so wie man ein Musikstück mögen kann oder einen Kinofilm. Sie entspannt sich. In ihrem Kopf laufen meine Bilder, meine Figuren, ich selbst, die Toten, Shershah und Jessie. In Claras Vorstellung müssen sie anders aussehen als in Wirklichkeit, aber sie sind es, und wir alle drei werden noch dort sein, in Claras Kopf, wenn ich selbst auch nicht mehr hier bin. Meine Backenmuskeln zerren mir die Mundwinkel nach oben, ich spüre, wie meine Augenbrauen sich heben und senken, als wären sie Raupen, die nach einer Seite davonkriechen und mein Gesicht verlassen wollen. Für einen Moment bin ich Clara so nah, als säßen wir aneinander geschmiegt im gleichen Fernsehsessel. Für einen Moment bin ich glücklich und sie ist es auch. Vielleicht ist es auch der Wodka. Der Kellner bringt zwei neue Gläser, und ich hebe eins an und halte es ihr unter die Nase, bis sie die Augen aufreißt und niest.
Als das Band zu Ende ist und ich die Stoptaste gedrückt habe, hängt Clara in ihrem Stuhl und sieht betrunken aus und sehr verschlafen. Sie öffnet die Augen und schaut durch dunstiges Blau so verwirrt in den Raum, dass ich mich vorbeugen und ihr Gesicht in beide Hände nehmen muss. Wir stemmen die Stirnen gegeneinander und reiben Nase an Nase. Ihre Haut riecht nach Kiwi.
Als ich sie draußen in ein Taxi packen will, wehrt sie sich.
Nee, lallt sie, alles schön und gut, aber ich penne erst mal für eine Zeit bei einer Freundin. Die Nerven, okay?
Damit habe ich nicht gerechnet. Eigentlich ist es kein guter Zeitpunkt, um mir einzugestehen, dass ich nicht allein sein will. Das Taxi fährt an und ich presse das Gesicht an die Scheibe, um Clara kleiner werden zu sehen an der Straßenecke, sie hebt noch mal kurz die Hand.
12 Schnecken
D ie Klingel erschreckt mich jedes Mal zu Tode. Ich höre ihren Klang vierundzwanzig Stunden lang nicht, und das reicht, um zu vergessen, wie schrill sie ist. Jacques Chirac springt auf und rennt zur Tür, er krümmt sich nach rechts und nach links und peitscht mit dem Schwanz. Jeden Abend, kurz nach Einbruch der Dunkelheit, kommt Clara und holt sich das neue Band. Sie klingelt, um sicherzustellen, dass ich besuchsfähig bin. Dann geht sie eine große Runde mit dem Hund.
Es ist noch hell. Die Wanduhr zeigt halb vier. Ich erhebe mich und knicke wieder ein. Meine Beine sind eingeschlafen, die Füße taub und nicht in der Lage, mich zu tragen. Ich humpele dem Hund hinterher, tausend Nadeln stechen auf meine Unterschenkel ein. Vor der Wohnungstür steht eine Gestalt mit glänzend schwarzem Pagenkopf, rotkariertem Rock und kniehohen Motorradstiefeln. Ich erkenne sie nur an den Stiefeln. Ich lasse die Tür offen stehen, wende mich ab und gehe in die Küche.
Das ist ein Schock. Es gibt sie also doch, die erste Clara, die aussieht wie Mata Hari und mir in der Phantasie so gut gefallen hat. Diese Wiederauferstehung hingegen gefällt mir überhaupt nicht. Gurrend begrüßt sie Jacques Chirac, der ihr immer wieder die Nase zwischen die Beine stößt. Ich frage mich, wie sie ihre langen Haare unter die Perücke gekriegt hat. Vielleicht ist der Pagenkopf echt und die blonde Mähne war falsch, schon die ganze Zeit. Sie kommt zu mir in die Küche und setzt sich an den Tisch.
Was gibt’s, frage ich, verschwinde wieder.
Schön langsam, sagt sie gutgelaunt, das ist immer noch meine Wohnung.
Was soll die Verkleidung, frage ich, warum kommst du so früh.
Ich bin auf dem Weg zu einer Party, sagt sie, und einige der Leute, die kommen, kennen mich nur so.
Du siehst scheiße aus, sage ich.
Ich stehe gegen den Kühlschrank gelehnt, ich habe keine Lust, mich hinzusetzen.
Gibt’s hier vielleicht was zu essen, fragt sie.
Nein, sage ich.
Bitte, sagt sie, was isst du denn immer?
Was – willst – du, frage ich.
Ich spüre meinen Adrenalinspiegel steigen.
Okay, sagt sie, ich sag’s dir. Die Party findet HIER statt, um neun, ich habe Geburtstag.
Du hast Ende Februar Geburtstag, sage ich.
Sie wirft affektiert die Arme in die Luft.
Ich fühle mich eben danach, sagt sie.
Jacques Chiracs dicker Kopf liegt auf ihrem linken Oberschenkel, die Augen hat er anbetend zu ihr nach oben gedreht, so
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