Adler und Engel (German Edition)
bestimmten Dämmerzustand zu verfallen, der nur auf Autobahnen vorkommt und nur bei Nacht, wenn sich bei hoher Geschwindigkeit die Bewegung selbst aufzuheben beginnt und es egal ist, wann man wo gewesen ist oder sein wird. Man könnte jedermann sein und überall, man kann von allem träumen.
Natürlich weiß ich trotzdem, wo wir hinfahren. In eine Stadt, die es mir manchmal ermöglichte, mich vergleichsweise lebendig zu fühlen, wenn in den unverschämt morbiden Mittagsstunden alle Häuser wie Mausoleen aussahen und deren Bewohner wie Wiedergänger. Wenn die Füße lernten, wie man unter unebenem Pflaster die Aufwerfungen des Friedhofs spürt, auf dem wir uns alle bewegen. Vielleicht folgt meine Rückkehr nach Wien, gerade jetzt, einer zwingenden Logik.
Die Dunkelheit draußen wird immer süddeutscher. Nur noch vereinzelt blitzen Lichter zwischen den Bäumen, selten macht ein ganzes Dorf in einer Senke durch seine beleuchteten Straßen auf sich aufmerksam. Streckenweise ist es ganz dunkel, die Menschheit wie ausgeknipst.
In der Ferne teilt sich unterschiedlich getöntes Schwarz zu einem Panorama ein, in Schwarz-Schwarz hebt sich eine Hügelkette vom Blauschwarz des Nachthimmels ab. Genau diese Strecke bin ich mit Jessie gefahren, allerdings auf der Gegenfahrbahn, in die andere Richtung. Die Hügelkette hatten wir damals rechts von uns, nicht links wie jetzt. Heute muss ich an Claras scherenschnittartigem Profil vorbeisehen, um die Hügel zu betrachten; damals hatte ich, selbst am Steuer sitzend, Jessies Profil im Bildausschnitt. Es ist schwer zu glauben, dass es immer noch dieselben Hügel sind und der identische Nachthimmel, damals wie heute, und dass nur Jessies Profil durch ein anderes ersetzt wurde. Damals fühlte ich mich am Anfang, jetzt fühle ich mich am Schluss oder sogar schon ein Stück weiter, sitze hier wie ein Theaterbesucher, der nach Ende der Vorstellung noch ein bisschen in seinem Sessel geblieben ist und verwundert feststellt, dass das Spiel weitergeht, dass nach dem Ende keiner mehr Anstalten zum Aufhören macht. Aber was für ein Unterschied kann das schon sein, wenn er nicht einmal in der Lage ist, ein paar Hügel wie eine Kuhherde auseinander zu treiben, den Wald zu verjagen, der einfach dasteht am Rand der Straße und zu jedem Anlass dasselbe Gewand trägt.
Clara und ich hören kein Radio mehr, wir atmen leise. Wir werden beleuchtet vom Glimmen der Armaturen. Von draußen schließt Dunkelheit uns ein. Wir bilden eine Kapsel auf dem Weg durch eine feindliche, weil unveränderte Welt.
Was ich mich immer gefragt habe, sagt Clara bei Nürnberg, ist, wie man dazu kommt, sich für ein Jurastudium zu entscheiden.
Aus Langeweile überlege ich mir schon eine Weile, was in ihr vorgeht, während sie so am Steuer sitzt und vor sich hin auf die leere Autobahn starrt, ob irgendwelche Wörter ihren Kopf anfüllen, oder vielleicht Töne oder Farben, oder ob es nur gleichmäßig rauscht zwischen ihren Ohren wie im Innern einer leeren Muschelschale.
Ich frage dich das nur, sagt sie, weil ich sonst keinen Juristen kenne.
Ich bin kein typisches Beispiel, sage ich. Ich habe mir einfach das Studium ausgesucht, das ich mir am wenigsten zutraute.
Und warum, fragt sie.
Ich dachte, so würde meine letzte Chance funktionieren.
Und, hattest du recht damit?
Siehst du doch, sage ich. Als ich nach zwei Mal Sitzenbleiben das Abitur durch Zufall geschafft hatte, war ein Jurastudium dermaßen lächerlich, dass ich es als Witz versuchen konnte.
Sie hat beide Hände auf dem Lenkrad und schaut unverwandt geradeaus. Ihre Perücke liegt wie eine tote schwarze Katze auf der Ablage vor der Windschutzscheibe.
Dann eines Tages, sage ich, überreichte mir der Landesjustizminister die Urkunde für die beste Abschlussnote meines Jahrgangs. Das war die Pointe, der Witz war zu Ende und es war Zeit zu lachen. Ich lachte ihm ins Gesicht und er lachte zurück, klopfte meine Schulter und gab mir ein zweites Mal die Hand.
Du warst ein toller Kerl, sagt sie.
Du verstehst nicht, sage ich. Nach der Schule war ich immer noch fett, hatte Haare bis zu den Hüften und Pickel groß wie Schildkröteneier auf dem Rücken.
Es gibt ganz unterschiedlich große Schildkröten, sagt sie.
Eben, sage ich. Ich machte beim Hautarzt eine Art Chemotherapie, die Haare schnitten sie bei der Bundeswehr ab und mein Übergewicht ist mit der Hilfe von ein bisschen Speed auf dem Truppenübungsplatz geblieben. Ich würde dir Vorher-Nachher-Photos zeigen,
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