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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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eine ganz andere Richtung.
    Du gehst jetzt mit Jacques Chirac in den Flur, sagt sie, und wartest an der Wohnungstür auf mich. Ich komme sofort, und dann gehst du mit mir, einfach neben mir her. Ja?
    Okay, sage ich.
    Sie rutscht von meinem Knie, ich fasse den Hund am Halsband. Jacques Chirac und ich stellen uns in den Flur. Die Musik wird laut, als Clara die Wohnzimmertür öffnet und hineinschlüpft, im herausfallenden Lichtschein verschrauben sich Rauchschlieren ineinander. Mein rechter Fuß stößt gegen eine Reisetasche, fast wäre ich gestolpert. Tom kommt auf den Flur.
    Hey Max Maximum, wartet er auf den Bus?
    Keine Ahnung, Tom Tombola, sage ich. Wie viele hast du eigentlich davon?
    Wovon?, fragt er.
    Kugelschreiber, sage ich.
    Eine Weile starrt er mich an, mit zusammengeschobenen Brauen, so dass ihm sein Piercing fast in die Augen sticht. Dann hebt er langsam das Kinn.
    Ach so, sagt er gedehnt, die bunten.
    Er grinst mich unverschämt an.
    Davon habe ich Tonnen, sagt er, riesige Tonnen stehen bei mir in der Wohnung, bis obenhin voll mit bunten Kugelschreibern. Aus Wien.
    Er geht an mir vorbei ins Bad und klopft mir auf die Schulter. Durch die Wohnzimmertür sehe ich Clara von hinten, sie spricht mit Susanne, deren Dekolleté ins Zittern gerät, jedes Mal, wenn sie lacht. Tom Techniker verlässt das Bad wieder, sich am Sack kratzend, wobei der Stoff seiner knietief hängenden Jeans zu dicken Falten gerafft wird. Dicht vor meinem Gesicht hebt er beide Hände, die Finger zu Krallen geformt.
    Liebster, flüstert er, man muss sich gut fühlen, wenn man etwas hat, das alle wollen.
    Vermutlich ist er auf Trip. Ich versuche, ihm auszuweichen.
    Aber denke er daran, sagt er. Nichts tun, was Jessie nicht gewollt hätte.
    Diesmal habe ich mich nicht verhört, das war Jessies Name, und zum ersten Mal seit Wochen wünsche ich ernsthaft, der Nebel in meinem Kopf ließe sich nur für einen Moment beiseite schieben. Ich will Tom am Arm packen, aber er presst sich schon im Türrahmen an Clara vorbei, die auf den Flur kommt.
    Jetzt aber los, flüstert sie, als er weg ist, Susanne hat hier alles im Griff.
    Sie wühlt in einem Jackenberg, es klirrt, dann fasst sie nach der Reisetasche und schiebt mich aus der Tür.
    Du hast es versprochen, sagt sie, du gehst schön mit.
    Der Hund läuft voraus. Plötzlich wird mir klar, dass ich die Wohnung gerade zum letzten Mal gesehen habe. Dass ich das Treppenhaus in genau diesem Moment zum letzten Mal sehe.
    Der Hund hat sich hier eigentlich sehr wohl gefühlt.
    Sie hat mich am Ärmel. Ich bin froh, an der frischen Luft zu sein. Der Mond ist jetzt ganz verschwunden, hat das Laken geglättet und es sich über den Kopf gezogen. Ein bisschen Helligkeit scheint durch an der Stelle, wo er sich versteckt.
    Wir rennen bis zur Straßenecke, drehen um, rennen zurück und um den Häuserblock herum.
    Ah!, sagt Clara.
    Ich sehe es erst, als wir davor stehen, das grüne Auto von Tom. Clara schubst den Hund auf die Rückbank, mich auf den Beifahrersitz und die Reisetasche auf meine Knie. Beim Ausparken gibt es einen kleinen Ruck, als sie gegen das Auto hinter uns stößt.
    Auf der Autobahn dreht sie das Radio an und wippt den Kopf im Takt. Im Dunkeln sehe ich, dass sie lächelt.
    Das Leben ist merkwürdig, flüstert sie, es besteht eigentlich nur aus Griffen und Schritten. Ein paar wenige davon und schon ist alles anders.
    Ich spüre es wieder, dieses Zucken im Zwerchfell.

Wien

15 Erstsemesterstoff
    I ch habe sie nicht gefragt, wohin wir fahren, und sie fragt mich nicht, ob ich dorthin will. Meine Antwort müsste »Nein« lauten, aber eine andere Antwort hätte ich auch nicht auf die Frage, ob ich nach Leipzig zurückwill oder an irgendeinen anderen Ort auf der Welt. In dieser Lage ist nichts mehr möglich, außer zuzusehen, wie die grüne Kühlerhaube rhythmisch auf uns zufliegende weiße Streifen einsaugt.
    Der Hund hat Durchfall vom Salat. Er stöhnt und schiebt seinen dicken Kopf zwischen der Rücklehne meines Sitzes und dem Beifahrerfenster nach vorne, um mir auffordernd die Schnauze ans Ohr zu stoßen. Alle zwanzig Minuten wird sein Gewinsel so drängend, dass wir auf einen Parkplatz fahren. Dann öffne ich ihm von innen die Tür, wir bleiben sitzen bei laufendem Motor und warten, bis er fertig ist und wieder einsteigt. Währenddessen starre ich weiter geradeaus durch die Windschutzscheibe und versuche, mich fahrend zu fühlen.
    Die ständigen Unterbrechungen machen es schwierig, in diesen

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