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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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der SAP-Datenbank. An dem Papier ist eigentlich nichts Überraschendes. Wenn jemand so jung ist und so bekloppt aussieht, gleichzeitig aber so viel Selbstbewusstsein hat wie Tom, liegt die Vermutung nahe, dass er sich wahrscheinlich hervorragend mit Computern auskennt. Wenn es sich bei dem Adressaten dieser Rechnung nur nicht ausgerechnet um Rufus’ Kanzlei handeln würde.
    Ich knülle das Blatt zusammen und werfe es zurück in den Wagen. Ich kann nicht mehr unterscheiden, was ich längst wissen oder ahnen müsste und worüber ich mich noch wundern soll. Am besten ist es, sich über gar nichts zu wundern und jede neue Anspielung auf einen Zusammenhang sofort wieder zu vergessen. Ich trage Claras Ordner in den Schuppen.
    Es gibt ein Register aus gelben Pappstreifen darin. Unter »Phänomenologie« erfahre ich zum Beispiel, dass ich im Schlaf meistens auf dem Rücken liege und in seltsam herausfordernder Haltung die Arme verschränke. Das wusste ich nicht. Das Kapitel über »Träume« ist leer, den größten Teil macht »Autopräsentation« aus: Die Abschriften der Tonbänder füllen gut fünfzig Seiten. Dann schlage ich »Backgrounds« auf und lese mich fest.
    Offensichtlich ist sie doch ein paar der Dokumente durchgegangen, und sie war im Internet. Ich finde den Print einer winzigen, kaum lesbaren Europakarte, überschrieben mit »Das Schengengebiet«, auf der in gestrichelten Linien Transportrouten verzeichnet sind. Eine davon, aus Russland kommend und über Albanien quer durch die Adria bis Süditalien verlaufend, ist mit rotem Filzstift nachgemalt. Ich finde eine Pressemeldung, aus der gelb ein mit Textmarker angestrichener Satz heraussticht: The disappearance of Albania’s police forces during the period of worst domestic violence in March and April 1997 left the border-crossing points open to drug trafficking. The smuggling remained rampant until the end of the summer. Ich lese auch den Rest des Artikels und dann eine Serie von in Claras ordentlicher Handschrift festgehaltenen Zitaten, die von mir stammen müssen, an die ich mich aber größtenteils nicht erinnern kann: »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie uns hier abholen«, »Sie glaubte, dass sie als Nächste dran sei«, »Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass es um Geld geht«. In einer eckigen Klammer steht das Wort »Verschwörungstheorie« und dahinter ein Fragezeichen.
    Als ich genug habe und den Ordner zuschlagen will, entdecke ich noch ein weiteres Kapitel. Es trägt den Titel »Reflexe und interaktive Konsequenzen« und es befindet sich eine einzelne Seite darin, in deren Mitte ein Satz getippt ist in Großbuchstaben: »MIR IST SCHLECHT«.
    Ich erschrecke fast zu Tode, als etwas von außen gegen die Fensterscheibe knallt, es klingt, als würde ein in Stoff gewickelter Pflasterstein dagegen geworfen. Das Glas bleibt unversehrt, draußen fällt etwas zu Boden. Für ein paar Momente sitze ich wie gebannt, der Hund hat den Kopf gehoben, gibt aber keinen Ton von sich.
    Natürlich war es nur eine Frage der Zeit, bis sie uns hier aufsuchen, man sitzt nicht ewig ungestraft in der Höhle des Löwen herum. Die Vorstellung plagt mich, es könnte jetzt eine Handgranate draußen an der Hauswand liegen. Das Quälende daran ist vor allem die Frage, warum es mir kein Vergnügen bereitet zu wissen, dass ich in der nächsten Sekunde zerrissen werde.
    Ich trete in die Türöffnung, der Hund steht auf, ich halte ihn am Halsband. Alles, was ich sehe, ist eine dicke Amsel, die unter dem Fenster sitzt, aufgeplustert zu einem schwarzen Federball, aus dem vorne der orangefarbene Schnabel heraussticht. Sie muss gegen das Fenster geflogen sein, obwohl das Glas kaum durchsichtig ist und jede einzelne Scheibe die Topflappengröße nicht übersteigt. Vermutlich ist ihr Kopf zermatscht und sie fällt gleich tot um. Während ich sie ansehe, spüre ich ein Frösteln im Nacken, meine Haut ist wie aufgerauht, die Härchen stellen sich auf. Etwas stimmt nicht, und dann fällt mir auf, was es ist: Die Vögel schweigen, es ist unnatürlich still wie vor einem Gewitter. Während ich lausche, öffnet sich die Hoftür einen Spalt, und ich bin erleichtert, als ich Claras Gesicht erkenne, das Richtung Schuppen späht, wahrscheinlich um zu sehen, ob ich inzwischen auf der Erde sitze und kleinen Kindern die Köpfe abbeiße.
    Plötzlich fährt ein Schatten in mein Blickfeld. Die Amsel schreit und spreizt die Flügel, ein großer Vogel schleudert sie gegen die Hauswand. Seine

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