Adler und Engel (German Edition)
Schwingen klatschen flach gegen den Stein, der Körper der Amsel rollt zur Seite, ihre Flügel brechen mit dem Geräusch knickender Streichhölzer. Der Greifvogel packt sie, und mir scheint, sein hellgelbes Auge ist dabei auf mich gerichtet. Er erhebt sich mit wenigen Flügelschlägen, die Beute in den Klauen, und verschwindet über den Dachfirst des Vorderhauses. Ein Bild von einem Raubvogel. Wäre er größer, könnte er auch eine sich windende Schlange davontragen oder eine Prinzessin. Oder Jessie.
Clara auf der anderen Hofseite hat den Kopf in den Nacken gelegt und schaut ihm nach, aus irgendeinem Grund bin ich froh, dass sie das auch gesehen hat.
Das ist ja der reinste Wald hier, ruft sie mir zu. Kommst du mit in die Stadt?
Wir nehmen die Straßenbahn. Ich kaufe Fahrscheine für uns und den Hund, obwohl Clara sich halb totlacht darüber. Schwarzfahren überstieg schon immer meine Nervenkraft.
Die Leute halten sich an das Autofahrverbot, die Bahn ist vollgepackt bis unter den Rand. Alle unter siebzig stehen, es ist heiß und stickig wie in einem Gewächshaus. Clara trägt Perücke und versteckt sich hinter einer Sonnenbrille, ich sehe trotzdem, dass ihr nicht gut ist, ihre Glieder sind ohne Spannung, sie schaukelt an ihrem Arm in der Halteschlinge wie eine aufgehängte Marionette. Es ist nur eine Frage des Zufalls, wer von uns als Erstes in Ohnmacht fällt, sie, ich oder der Hund.
Wahrscheinlich ist es wegen des Falken oder Habichts oder was immer es war, dass ich »Jessie« in den Staub auf der Fensterscheibe schreibe, danach meine Fingerkuppe betrachte und untersuche, wie viel dieser Name darauf ausmacht. Jessie selbst hat sich oft auf diese Art verewigt, mit dem Finger auf Autoscheiben, Schaufenstern und Spiegeln, und auch wenn die meisten dieser Denkmäler längst vom Regen weggespült sein dürften, ist nicht auszuschließen, dass einige überdauern, in irgendeinem verborgenen, geschützten Winkel der Stadt. Je länger ich die staubige Scheibe anstarre, desto lauter beginnt mein taubes Ohr zu pfeifen. Das ist mir angenehm. Auf gewisse Art hat Jessie uns beide in den Kopf geschossen und ich bin schon fast so tot wie sie. Plötzlich taucht das Parlamentsgebäude auf zur linken Hand, ich verrenke mir den Hals, um es möglichst lange im Blick behalten zu können. Dahinter befindet sich Rufus’ Kanzlei.
Als Clara am Schottentor drei raschelnde Omas mit Einkaufstüten zur Seite stößt und aus der Bahn springt, weiß ich nicht, ob wir am Bestimmungsort angelangt sind oder ob sie es einfach nur nicht mehr aushält. Ich bin froh, ich platze gleich, ich fühle Rufus’ Anwesenheit im Umkreis von wenigen hundert Metern. Ich versuche mir einzureden, er sei auf Geschäftsreise am anderen Ende der Welt, aber ich spüre ihn weiterhin; plötzlich auch noch die Anwesenheit anderer Personen, Shershahs, Jessies, und dann glaube ich, die rote Baseballkappe von Tom Techniker inmitten einer Touristengruppe zu sehen. Ich fasse Clara am Arm und bleibe stehen.
Bitte, sage ich, gib mir den Recorder.
Sie hat ihn dabei, auch ein frisches Band, sie läuft am Rathaus vorbei und in den Park und steckt im Gehen das Mikrophon für mich ein. Wir setzen uns inmitten einer riesigen weißen Klappstuhlherde, vor der nach Einbruch der Dunkelheit Philharmoniekonzerte auf einer Kinoleinwand aufgeführt werden. Jetzt ist der Platz grell und leer, die Stühle reflektieren das Sonnenlicht wie eine Schneewehe, es sticht in den Augen.
Soll ich weggehen, fragt sie.
Es klingt, als wollte ich mich übergeben und müsste dazu allein sein.
Bleib ruhig, sage ich, ist nicht so wichtig.
Sie rief mich in der Kanzlei an, sage ich, und nannte ihren Namen nicht. Ich hatte so wenig damit gerechnet, jemals wieder von ihr zu hören, dass ich ihre Stimme nicht erkannte, und das Gespräch dauerte kaum eine Minute.
Clara hat sich von mir abgewendet, sie streichelt den Hund, der halb liegt und halb sitzt, ungeschickt auf seine zu langen Beine montiert. Der Recorder wird klitschnass von meinen Händen, ich lege ihn neben mich auf den nächsten Stuhl.
Am nächsten Tag hatte ich sie wieder am Telephon, und diesmal erriet ich, wer sie war. Sie fand es nicht seltsam, mich nach zwölf Jahren wieder zu sprechen, sie fragte nur, ob jemand eine Botschaft für sie hinterlassen habe, und legte auf. Ab dann rief sie öfter an, meist abends, wenn die Sekretärinnen bereits nach Hause gegangen waren und eine Jurastudentin in der Notzentrale den Telephondienst versah. Ob
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