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Adler und Engel (German Edition)

Adler und Engel (German Edition)

Titel: Adler und Engel (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juli Zeh
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bis ich still liege und kapiere, dass das Pfeifen in meinem linken Ohr stattfindet. Ich schlage die Augen auf und sehe ein paar Stubenfliegen, die trotz des ausgeschalteten Lichts um die Glühbirne an der Decke kreisen. Ich hatte einen Alptraum, und das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich mich niemals erinnern werde, worum es darin ging. Es passt zu Gottes bekanntermaßen seltsamer Art von Humor, dass er den Menschen nicht mal im Schlaf Ruhe gönnt vor dem eigenen Hirn.
    Mein Körper gehorcht den Befehlen nicht, die ich an ihn sende. Keiner meiner Füße verlässt das Bett, mein Oberkörper richtet sich nicht auf. Endlich bekomme ich den rechten Arm hoch, vorne hängen die Finger leblos herunter wie abgestorbene Blätter von einem Ast, ich muss sie trotzdem verwenden, um mit ihnen die klebenden Kunstseideteile des Schlafsacks von meiner Haut zu streifen.
    Scheiße, sagt sie, das muss doch irgendwo.
    Langsam kapiere ich, was sie da macht: Sie sucht die Rückseite ihres Ghettoblasters nach Eingängen ab. Ich wälze mich herum, mit dem Handgelenk stoße ich an etwas Festes, fast fühlt es sich an wie eine Erektion. Ausgeschlossen. Es bleibt keine Zeit, sich darum zu kümmern, es muss ohnehin ein Irrtum sein. Clara findet den Anschluss und steckt das Kabel ein. Am anderen Ende hängt ein großer schwarzer Kopfhörer, er sieht professionell aus, wie eines der Geräte, die von DJs getragen werden. Je eine dicke Hörmuschel nimmt sie in jede Hand, spreizt sie auseinander und hebt sie über ihren Kopf.
    Nicht, warte!, rufe ich.
    Folgsam hält sie inne, die Arme in der Luft. Weil ich nicht aufstehen kann, winke ich sie zu mir heran. Sie kommt, langsam, aber sie kommt, folgsam wie ein Hund, ihren Ghettoblaster schleppend, als wäre er aus Zement, stützt eine Hand gegen den Balken der Hängematte und reicht mir den Kopfhörer. Sie steht gebückt. Das muss von den Magenproblemen kommen.
    Wo hast du den gefunden, frage ich.
    Unterm Tisch.
    Du kriegst ihn sofort wieder, nur einen Augenblick. Ich muss was prüfen.
    Die Luft leistet meinen Bewegungen Widerstand, als würde ich mich in einem Bottich halb geronnenen Schweinebluts wälzen. Ich führe den Kopfhörer dicht vor mein Gesicht und schiebe die Nase zwischen die beiden Hälften. Clara wartet mit hängenden Schultern, den Blick starr auf ihr neues Spielzeug gerichtet.
    Wenn ein abgerissenes Ohr von ihm im Inneren des schwarzen Polsters läge, könnte der Eindruck nicht stärker sein. Eine Adrenalinexplosion legt Feuer in meine Bauchhöhle, die Druckwelle fährt mir bis in den Hals hinauf. Shershah hat seine Haare selten gewaschen, sie haben immer stark gerochen. Aber das hier schlägt alles. Ich atme aus und wieder ein, eine neue Geruchswolke füllt meinen Kopf. Ich bin einem Zipfel seiner Unsterblichkeit auf die Spur gekommen, habe den Schlupfwinkel entdeckt, in dem er sich aufbewahrt, zwischen den schwarzen Ohrpolstern eines Kopfhörers, wie ein knochenloses, fleischiges Tierchen in seiner Schale.
    Sofort sehe ich ihn vor mir, ganz deutlich, als stände er wirklich an der offenen Tür zum Hof, eine dunkle Gestalt, das Licht im Rücken. Shershah hat sich immer gut zum Lichteinfall zu positionieren gewusst, und ich konnte nie herausfinden, ob es Intuition war oder Berechnung. Leicht gebeugt steht er, groß, schlank und träge. Wie bei einer Raubkatze hat seine faule Haltung etwas Alarmierendes, man ahnt Anspannung dahinter, die Bereitschaft, im nächsten Augenblick zu springen und zu töten, auch dann noch, wenn man ihn lange kennt und er kein einziges Mal gesprungen ist. Seine Schultern sind leicht hochgezogen, der Kopf vorgeneigt, als würde er permanent auf etwas lauschen, das sich unter seinen Füßen abspielt. Ich sehe zu, wie er sich mit beiden Händen die Haare am Hinterkopf zu einem Zopf zusammendreht, der, kaum losgelassen, sofort wieder auseinander springt.
    Auf unserem Internatszimmer habe ich selbst manchmal, wenn Shershah wie ein fabrikneuer, unbenutzter Dummy im Sessel lag und den Kopf über die Lehne nach hinten hängen ließ, auf diese Art in seine Haare gegriffen und sie zusammengedrückt. Sie ergaben einen armdicken Strang. Shershah zeigte durch kein Zucken, ob er meine Berührung überhaupt wahrnahm. Manchmal stand ich dann lange still, die Hände in seinen Haaren, und während ich darauf wartete, dass der Rauchfaden von der Zigarette zwischen seinen Lippen sich beruhigte und wieder als senkrecht stehendes Lot seinen Mund mit der Zimmerdecke verband,

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