Adrenalin - Iles, G: Adrenalin - The Devil's Punchbowl
wüsste, wäre der Nutzen begrenzt, denn der weiße Schleier, der das Boot rasch umhüllt, wird bald nichts mehr erkennen lassen.
»Ich glaube, der Chef hat was für dich übrig«, fährt Quinn fort. »Jeder anderen hätte er den Bolzen sofort in den Arsch gesteckt und den Saft voll aufgedreht.«
Linda schüttelt den Kopf. »Nein. Dazu ist er nicht fähig.«
Quinn lacht. »Sei nicht zu sicher. Wäre Jessup nicht abgehauen, hätte er gelitten wie ein Märtyrer.«
Linda sieht Quinn erschrocken an. »Abgehauen? Ich dachte, Tim ist tot.«
»Das meine ich ja. Von der Klippe zu fallen war das Beste, was dem Spinner passieren konnte. Wäre er am Leben geblieben, hätte Sands die Kreuzigung Jesu wie ein Kinderspiel aussehen lassen. Wer den Boss ärgert, muss mit einer Sonderbehandlung rechnen. Wie Benny da hinten.«
Quinn möchte, dass ich mit ihm rede, überlegt Linda. Er wünscht sich eine Beziehung.
»Hast du mal gesehen, wie etwas bei lebendigem Leibe gefressen wird?«, fragt er und lenkt das Boot ein wenig nach steuerbord.
Linda antwortet nicht, aber sie erinnert sich, dass eine ihrer Katzen früher Streifenhörnchen fing und sie vor ihrem Tod stundenlang quälte. Die armen Geschöpfe durften sich ein paar Schritte entfernen und sich auf die Freiheit freuen, bevor die Katze sich auf sie stürzte und ihnen den Bauch mit einer Klaue aufriss.
»Nichts auf der Welt ist damit zu vergleichen«, sagt Quinn, als staune er über seine Erkenntnis. »Deshalb liebten die Römer ihre Spiele so sehr. Das ist das Leben, direkt vor deinen Augen. Töte oder werde getötet. Friss oder werde gefressen. Entweder bist du das Raubtier oder die Beute. Und tief im Innern weiß jeder von Anfang an, was von beidem er ist.«
Ein gewaltiger Lichtstrahl huscht über das Boot hinweg, hält an, kehrt zurück und entfernt sich in einem Bogen. Linda hat den Eindruck, dass die Baumkronen zu ihrer Rechten mit einem Blitzlicht fotografiert werden.
»Genau wie der blöde Mistkerl.« Quinn blickt zu Ben Li hinüber. »Schlauer, als ihm guttut. Er hat an einem Tag mehr Geld verdient als seine Eltern in zehn Jahren, aber das reichte ihm nicht. Er musste Scheiße bauen. Guck ihn dir an. Angeblich ein Genie. Aber noch vor morgen Mittag wird ein Pitbull sein Gehirn auskacken. Und am Morgen danach sind seine Knochen zu Pulver zerkaut.«
Linda dreht sich der Magen um. Am Abend der Hundekämpfe hatte sie sich der Grube so lange wie möglich ferngehalten. Aber allein der Lärm hatte ihr Übelkeit bereitet, und die kurzen Szenen, deren Anblick sie sich nicht hatte entziehen können, waren in ihr Gedächtnis eingebrannt. Zwei blutverschmierte muskelbepackte Tiere waren eine Stunde lang in ein fast bewegungsloses Gefecht verwickelt. Die massiven Kiefer des einen hatten sich in der Brust des anderen festgebissen, und beide rangen um einen Vorteil, während zwei Dutzend schreiende Männer die Hunde anstachelten, einander zu töten.
»Und ich?«, fragt sie mühsam.
Quinn schürzt die Lippen wie jemand, der einen Preis festsetzt. »Vielleicht am Tag danach. Hängt davon ab, wie interessant du die Sache machst. Wenn du nicht so verdammt viel wüsstest, würde ich dich fürs Wochenende dabehalten. Dich vermieten. Jede Menge Big Boys reist für die nächsten beiden Wochen an. Sie verbinden das Angenehme gern mit dem Nützlichen.«
Das Boot springt aus dem Wasser und platscht nieder. Dann hüpft es wie ein Trecker, der über Ackerfurchen fährt. Das ist Kielwasser, denkt Linda. Nun weiß ich, woher der Scheinwerfer kam. Wir überholen bestimmt einen Schlepper, der Kähne vor sich her schiebt …
»Ich muss zur Toilette«, sagt sie. »Dringend.«
»Mach dir in die Hose. Es ist ja nicht das erste Mal.«
»Ich kann es nicht mehr zurückhalten. Ich bin krank. Das willst du doch nicht auf dem Boot haben.«
»Scheiße, nein! Unter dem Sitz hinter Benny ist eine Eistruhe. Benutz die.«
Linda stemmt sich auf die Ellbogen, was mit gefesselten Händen schwerer ist, als sie erwartet hatte, und kriecht zurück zum Heck, wo Ben Li sie mit blutunterlaufenen Augen verzweifelt anstarrt. Sie legt den Mund an sein Ohr und flüstert: »Ich wünschte, ich könnte dir helfen. Es tut mir leid.«
Sie kann seine Furcht spüren, die er wie Körpergeruch verströmt. Ihr fällt ein, dass sie auf der Magnolia Queen geglaubt hatte, einen Zustand jenseits der Furcht erreicht zu haben. Später, auf dem Stuhl, war ihr klar geworden, dass nur die Toten jenseits aller Furcht sind. Aber
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