Adrenalin - Iles, G: Adrenalin - The Devil's Punchbowl
nun, als sie sich aufrappelt und Ben Li als Stütze für ihre gefesselten Hände benutzt, ist sie sich nicht mehr so sicher.
Einen Moment lang bricht ein Lichtstrahl durch den Nebel, und Linda sieht das Ufer mit vereinzelten Baumwipfeln, die fünfzig Meter rechts von ihr vorbeijagen. Zu ihrer Linken ist nur Dunst. Hundert Meter vor ihnen lässt ein Schlepper das Wasser zu einem Strudel aufschäumen. Quinn fährt schnell genug, um ein halbes Dutzend Wasserskifahrer ziehen zu können.
»Kannst du ein bisschen bremsen?«, ruft sie.
»Mach schon dein Geschäft, verdammt!«
Linda bückt sich vorsichtig und zerrt den Rand der hinteren Sitzbank mit ihren gefesselten Händen hoch. Sie staunt über den glänzend weißen Deckel der Iglu-Truhe. Der Anblick des Markenzeichens treibt ihr Tränen in die Augen. Sie erinnert sich an Picknicks und Partys in längst vergangenen Jahren, in denen sie einen schwitzenden Arm ins Eis schob und einen Weinkühler hervorholte …
»Ich dachte, du hast es eilig«, brüllt Quinn und schaut sich ärgerlich um. »Zieh die verdammte Hose runter. Gib uns eine Vorschau, wird’s bald?«
Linda blickt hinunter auf Ben Li. Vorher hatten seine Augen einen flehenden Ausdruck gehabt, doch nun beobachten sie Linda mit einer seltsamen Faszination. Er wartet darauf, ob sie wirklich die Hose herunterzieht. Das alles hat mit Macht zu tun, das weiß sie. Ben Li hat gehört, wie Quinn über ihn und die Hunde sprach. Er soll als Erster sterben, und nun hat er keine andere Wahl, als liegen zu bleiben, zu beobachten, zu warten und wahrscheinlich um irgendein Wunder oder auch nur um eine Ablenkung zu beten, bevor er sterben muss.
Der Nebel um das Boot verdichtet sich wieder, und die Nacht wird noch schwärzer.
Linda richtet sich auf. Tief in ihr – so tief, dass sie seine Existenz vergessen hat – schwillt etwas an, dehnt sich aus, erfüllt sie. Es muss Liebe sein oder wie immer man das Gefühl nennen soll, das in dem letzten dunklen Schrank steckt, in dem man es vor der Welt verschlossen hast. Linda hat nie gewusst, warum sie mit Tim so weit ging. Ihr war immer klar gewesen, dass er seine Familie nicht verlassen würde. Sie hätte ihn nie darum gebeten, obwohl sie es sich inbrünstig wünschte. Aber nun – auf dem Fluss, in dessen Sichtweite Tim starb – weiß sie es.
Sie wollte ein Kind.
Obwohl über dreißig Jahre alt, hatte sie keine Schwangerschaft hinter sich, aber sie war noch jung genug. Und Tim hätte Julia nicht zu verlassen brauchen, um ihren Wunsch zu erfüllen. Tim war das gewesen, was für Linda einem eigenen Kind am nächsten kam: ein großer kleiner Junge, der hoffte, dass die Welt besser werden würde, wie sie war.
»Er hat mich geliebt«, sagt sie laut – ein einziges Mal für all die Male, als sie sich danach sehnte, es den Menschen in ihrer Umgebung anzuvertrauen.
Dieses Wissen steigt in ihrer Brust auf und verleiht ihrer Haut einen schwachen Glanz. Sie fühlt sich wie die Madonna auf den alten italienischen Gemälden, die in der Bibel ihrer Großmutter abgedruckt waren. Das alles gibt sie Ben Li mit einem einzigen langen Blick zu verstehen, der die unendliche Gnade einer Frau enthält.
»Musst du jetzt, oder musst du nicht, du verrücktes Miststück?«
Seamus Quinns wütende Stimme durchdringt die Nacht und den Nebel, nicht jedoch den Glanz, der von Linda Church ausstrahlt.
Mit der Anmut eines Vogels, der zum Flug ansetzt, tritt sie auf den Deckel der Iglu-Truhe und springt in den Fluss.
16
W enn Physiker eine Zeitmaschine entwickeln wollen, sollten sie die Furcht erforschen. Furcht kann die Zeit unbegrenzt erweitern und komprimieren. Für den, der verzweifelt auf Rettung wartet, dehnt sich jeder Moment zu unerträglicher Qual; für andere, denen der Tod durch Krebs bevorsteht, dreht sich die Erde unerbittlich schnell und verkürzt die Tage, bis sie den durchgeblätterten Seiten eines Buches ähneln. Wir sind in unserem Körper gefangen, weshalb Wahrnehmung alles ist, und den Antrieb der Wahrnehmung liefert der Hunger nach Leben.
Vor heute Nacht hätte ich mir nicht vorstellen können, sechs Stunden lang mit meinem Vater Karten zu spielen. Doch nun sitzen wir hier, setzen Streichhölzer ein, blicken einander gelegentlich in die Augen oder schauen ungläubig auf die Waffen, die zwischen uns auf dem Sofa liegen. Ich bin kein guter Kartenspieler, sodass die Sache einseitig ist. Wir haben genug Worte gewechselt, um mögliche Lauscher zu überzeugen, dass wir eine lange Nacht
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