Adrianas Nacht
der Stelle, an der ich Adrianas Hand losgelassen hatte.
Ein Scherz!
Ich hatte das Gefühl, wenn ich jetzt einen Schritt machen würde, könnte ich den Film nicht mehr zurückspulen. Adriana könnte mir dann nicht mehr wieder entgegenfliegen. Ich könnte meinen Fehler, meine Schuld (ein Scherz!) nicht rückgängig machen.
Ich hielt noch immer Adrianas Hand. Meine Geliebte war im dem Moment gestorben, als ich losließ. Nicht weil ich losgelassen hätte, um meine Geliebte zu töten, aber sie hatte mir vertraut, in diesem Moment und in den vielen Momenten, in denen wir einander verwöhnt und uns ohne Rückversicherung hatten fallenlassen. Sie hatte mir Nicole anvertraut, mir ihren eigenen Körper und den ihrer besten Freundin geschenkt, um meiner (und natürlich auch ihrer) Lust zu frönen. Und diese Verantwortung, die aus ihrem Vertrauen entstanden war, war leicht zu tragen, war Spaß. Aber der eine Fehler, dieser Moment der Unachtsamkeit, der Fehleinschätzung, ließ sich nicht tragen, war unerträglich. Die Schuld lastete schwer auf mir, und ich wusste nicht, wie ihr entrinnen. Würde sich auch dieses Gefühl irgendwann relativieren, so wie es die erste Liebe leider auch tut, dieses heißeste Feuer, dieses hellste Strahlen? Würde es sich ritualisieren, in der Wiederholung abschleifen, damit den Stachel verlieren, nur noch drücken wie ein abgerundeter, flacher Stein im Schuh?
Im Moment brannte die Schuld wie Feuer in mir, und ich versuchte, indem ich die Geschichte von Adriana, Nicole und mir aus der Tasche zog, wieder auf andere Gedanken zu kommen. Ich hatte noch kein Wort zu Adriana gesagt, aber vielleicht bekam sie ja trotzdem einiges mit von dem, was in mir vor sich ging. Nun begann ich, ohne ein Wort an Adriana direkt gerichtet zu haben, damit, den Text wieder langsam, Wort für Wort vorzutragen. Las, sprach, betonte bestimmte Passagen besonders deutlich und hoffte immer noch, ich könne den Film zurückspulen. Adriana würde aus dem Koma mir ihre Hand entgegenstrecken. Ich würde sie ergreifen, fest zupacken, die Hände wie Schraubstöcke, und ich würde ziehen, auch wenn mein Arm fast riss. Ich zöge Adriana aus diesem dunklen Schlund, der sie zu verzehren schien. Ich entrisse sie der Maschine, dem linearen Ablauf der Zeit, und dann gäbe es sie wieder, Adriana, meine Geliebte, Mutter, Ehefrau. Ich hatte all diese Figuren zerstört. Und ich las weiter. Der Zwiespalt zwischen dem, was ich las, und dem, was auf mir lastete, schien unüberwindbar. Ich machte eine Pause. Mein Mund war trocken. Ich ging zu Simone, die ganz vertieft in den Text war. Beide Ellenbogen auf der Tischplatte an beiden Seiten des bedruckten Papiers, den Kopf in die Hände gestützt, hatte sie sich in unsere Geschichte vertieft. Als ich sie ansprach, fuhr sie hoch und sagte: „Mann, du hast mich aber erschreckt!“
Als ich Simone nach einem Glas Wasser fragte, zeigte sie den Gang hinunter, »Dritte Tür links, du findest das dann schon!«, und war wieder im Text verschwunden.
19.
Ich ging langsam den Gang hinunter. Ich hatte bisher nie darüber nachgedacht, wer eigentlich noch auf dieser Station lag. Waren das alles Komapatienten wie Adriana, zum Leben Verurteilte, die an Maschinen hingen? Ein Trakt voller Untoter? Ein wenig gruselte es mich in dem Moment. Schließlich erreichte ich das Schwesternzimmer. Auf dem Tisch stand eine Plastikflasche mit Apfelschorle neben einer bunten Krankenhausblumenvase, einer dieser Vasen, die so hässlich und robust waren, dass sie seit Jahren niemand stehlen mochte, und kaputt gingen sie auch nicht. Aus dem Regal nahm ich mir ein Glas, schenkte mir von der Schorle ein und trank das Glas in einem Zug leer. Ich setzte mich an den Tisch und starrte auf die Platte. Ich zählte die Blüten auf der Tischdecke, um auf andere Gedanken zu kommen.
Ich weinte. Es begann einfach damit, dass ich verschwommen sah. Tränen fielen salzig auf die Blüten der Tischdecke.
Nach einigen Minuten kam Simone herein. Als sie bemerkte, was mit mir los war, stellte sie sich hinter mich und massierte meinen Nacken. Sie streichelte mich, sagte zwischendurch: »Das wird schon wieder.«
Nach einigen Minuten der Stille nahm ich ihre Hand und küsste sie, streichelte mein feuchtes Gesicht mit ihrer Hand. Simone kam plötzlich sehr nah an mein Gesicht, sagte: »Du armer treuer Freund!«, und küsste mir sehr zärtlich die Tränen vom Gesicht. Kleine, liebevolle Küsse, ihre Hände streichelten meinen Nacken, massierten meinen
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