Adrienne Mesurat
gut?«
»Ich sehe sie täglich.«
»Wirkte sie in der letzten Zeit ruhig, zufrieden?«
Madame Legras hielt die Hände immer noch gefaltet; sie löste sie ein wenig voneinander und senkte den Blick, wie um in ihren Handflächen nach einer Antwort zu suchen.
»Sie kam mir nervös und niedergeschlagen vor«, sagte sie schließlich.
»Wissen Sie, ob sie normal ißt?«
»Ich glaube nicht. Sie ist schmäler geworden«, sagte Madame Legras. Und fügte mit leicht dramatischem Unterton hinzu:
»Sie hustet seit ein paar Tagen.«
Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite und schien nachzudenken.
»Glauben Sie, daß sie noch sehr unter dem Tod ihres Vaters leidet?« fragte er etwas leiser.
Madame Legras stieß einen langen Seufzer aus.
»Natürlich«, antwortete sie und zog dabei eine Schulter und eine Braue in die Höhe, »aber da muß noch etwas anderes sein.«
»Hm, ich danke Ihnen, Madame«, sagte der Doktor schnell und griff nach seinem Hut. »Wenn Sie es so einrichten könnten, daß sie die Nacht hier verbringt, ich denke, das würde ihr guttun. Eine kleine Veränderung in den Gewohnheiten kann bei einem nervösen Menschen oft viel bewirken.«
Madame Legras überlegte ein paar Sekunden.
»Gut«, sagte sie dann, »sie wird hier schlafen.«
V
Mitten in der Nacht erwachte Adrienne und wußte sofort, daß sie nicht zu Hause war; der Mond schien in den kleinen Salon, in dem das junge Mädchen für die Nacht untergebracht worden war. Sie stand von dem Kanapee auf, das ihr als Bett diente, zog ihre Pantoffeln an und ging zum Fenster, das einen Spalt offenstand. Die Luft war drückend; ein wolkenloser Himmel versprach für den nächsten Tag noch höhere Temperaturen als an den vorangegangenen.
Es war Adrienne, als lebe sie nur noch ein so merkwürdiges Leben, wie es einem zuweilen im Traum bewußt wird. Sie erinnerte sich an das Gespräch, das sie vor dem Schlafengehen mit Madame Legras geführt hatte, wie sie versucht hatte, dieser Frau die Stirn zu bieten, die sie völlig entmutigen wollte, ihr Herz umstimmen, ihr beibringen, was sie unter einer vorzeigbareren Partie verstand. »Eine Partie«, wiederholte das junge Mädchen halblaut, mit einer Mischung aus Zorn und Überdruß, »eine Partie, als ob mir das nicht völlig gleichgültig wäre. Ist es meine Schuld, wenn ich diesen Mann liebe? Ich habe ihn mir nicht ausgesucht.«
Sie setzte sich aufs Fensterbrett und stützte den Ellbogen auf die Brüstung. Die Straße war strahlend weiß, mit scharf hervortretenden Schatten am Fuß der Mauern. Tiefe Stille herrschte, jene Mitternachts- und Mittagsstille, die einem in den kleinen Provinzstädten das Herz beengt, als sei ein plötzlicher Tod über alles Lebendige gekommen. Sie hob die Augen und sah auf der anderen Straßenseite ein schmales Haus, hinten in einem kleinen Garten. Die sechs Stufen der Außentreppe führten ohne jede Anmut zu einer Tür, deren oberer Teil aus einem Gitter mit einem komplizierten Muster bestand. Adrienne kannte dieses Gitter gut. Wie oft war sie mit ihren Kleinmädchenfingern über die eisernen Schnörkel gefahren! In dieser schlichten Erinnerung lag etwas Niederdrückendes. »Warum bin ich hier?« fragte sie sich. Sie blickte zu den Fenstern hinauf. Es waren sechs, in einen rauhen Stein geschnitten, hoch und schmal wie das Haus selber, mit alltäglichen Gesimsen und Läden, die rautenförmige Löcher hatten.
Und dann das Rundfenster; dann das Dach, dieses fast senkrechte Dach, dessen viel zu rote, viel zu neue Ziegel Zeit und Wetter nicht auszubleichen vermochten. Adriennes ganze Aufmerksamkeit wurde von diesen Einzelheiten gefangengenommen, die sie schon hundertmal betrachtet hatte, die aber, um diese Stunde und von diesem Ort her, ein Aussehen anzunehmen schienen, das sie nie zuvor bemerkt hatte. Es war, als ob eine Art Halluzination sich ihrer Sinne bemächtigte. Während sie immer länger auf die Villa des Charmes starrte, begann sie sich fast einzubilden, nie einen Fuß hineingesetzt, ja bisher nicht einmal die Existenz dieses gewöhnlichen und verbauten Hauses wahrgenommen zu haben. Und dieser Eindruck unterschied sich kaum von dem Ekel, welchen man vor einer Sache empfinden kann, die man nur allzu gut kennt und von der man sich plötzlich mit Grauen abwendet, nachdem man ihren Anblick lange Jahre hindurch ertragen hat.
»Ich träume«, dachte sie. »Ich sollte hier nicht sitzenbleiben.«
Doch etwas wie eine Lähmung hielt sie an ihrem Platz fest, und sie rührte sich nicht,
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