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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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die Wange in die Hand geschmiegt und den Ellbogen auf der Brüstung. Und so wie es ihr nicht gelang, aufzustehen und sich zu bewegen, so fühlte sie sich auch nicht imstande, ihrem Denken eine Richtung zu geben. Alle möglichen Erinnerungen stürmten auf sie ein, ohne daß sie den geringsten Versuch unternehmen konnte, sie sich vom Leib zu halten; unzusammenhängende Gedanken, so schien ihr, schwirrten durch ihren Kopf, wie es ihnen beliebte; sie hatte das seltsame Gefühl, daß sie mit einer unbekannten Welt Verbindung aufnahm, daß ihr der Wille geraubt und sie zu untätigem Handeln gezwungen wurde. Sie spürte auch keine Traurigkeit mehr oder Angst; Gleichgültigkeit allem gegenüber war jetzt an die Stelle der Verzweiflung getreten, die sie noch vor wenigen Stunden niedergeworfen hatte.
    Mit einemmal fühlte sie sich fern von allem, was ihr gewohntes Leben ausmachte, und während sie die Villa des Charmes betrachtete, ohne richtig fassen zu können, daß sie ihr ganzes Leben in ihr verbracht hatte, wunderte sie sich auch über die Gefühle, die sie so sehr gequält hatten, und erkannte sich in der Erinnerung an ihren Schmerz kaum wieder. Etwas trug sie fort, aus sich hinaus; ihr wurde die Schwere ihres Körpers bewußt; ihr Kopf, ihre Hand, ihr Arm, ihr ganzer Leib schienen einen einzigen Block zu bilden, der sich von alleine nicht mehr bewegen konnte. Ihr war, als fliege sie aus dieser reglosen Masse hinaus und schwebe über ihr. Und allmählich erfüllte eine wohltuende Ruhe ihr Herz, während ihre Sinne von einem eigenartigen Schwindel erfaßt wurden. Die Villa, die Bäume neigten sich vor ihren Augen auf die eine Seite, dann auf die andere, ganz langsam, und dieses merkwürdige Schwingen der Erde lullte sie ein.
    Sie schloß die Augen und begriff im selben Moment, daß der Bann sich löste. Das Leben nahm in ihr wieder Gestalt an, so wie sie es kannte, den Launen der Erinnerung gehorchend. Sie sah sich am Straßenrand stehen, mit einem großen Strauß Wiesenblumen im Arm. Dort, dachte sie, dort hatte alles begonnen.
    Aber noch während sie sich in ihr Erinnern hinabgleiten ließ, verspürte sie etwas, das einem Stoß glich. Es war, als fange sie sich, kurz bevor sie vornüber fiel, noch einmal oder als ziehe eine unbekannte Kraft sie nach hinten und lasse sie wieder zu sich kommen. Alles verschwamm ihr vor den Augen, in ihren Ohren jedoch hallte ein Geräusch wider, das sie zum Zittern brachte. Sie hörte das Gartentor der Villa des Charmes zuschlagen, dann drang nach einem Augenblick der Stille ein anderes Geräusch an ihr Ohr, ein Geräusch, bei dem sie am liebsten geschrien hätte; gegen ihren Willen zergliederte sie es; da war zunächst ein dumpfer und schwerer Klang, der sich in kurzen, regelmäßigen Abständen wiederholte, am Anfang zögernder, dann schneller und lauter, ein dunkles Stampfen und schließlich ein anschwellendes Gemurmel von Worten, die mit leiser Stimme gewechselt wurden. Entsetzt lauschte sie, wie Sand und Kieselsteine unter den sich langsam drehenden Rädern knirschten; wieder hatte sie diese Räder vor Augen. Ging sie nicht dicht hinter ihnen? Sie waren schwarz. Der Sand glänzte fast weiß in der Hitze des Vormittags; sie sah ihn zu ihren Füßen, zwischen den beiden Rädern. Das war alles, was sie sehen konnte, sie wollte nicht aufschauen. Ein einziger Gedanke beschäftigte ihren Verstand, und seine Bedeutung wuchs ins Ungeheure: »Alle starren mich an, ich darf nicht zu schnell gehen, ich darf den Rädern nicht zu nahe kommen, ich muß mich dem Schritt der Pferde anpassen. Alle starren mich an.« Und in der gleichen Benommenheit ging sie dahin, erstickte fast unter dem schwarzen Kreppschleier. Sie folgte dem Leichenzug ihres Vaters.
    Mit einemmal kamen ihre Kräfte wieder, und sie stand auf: »Was habe ich nur?« sagte sie laut, mit stockender Stimme. »Wenn ich an all das denke, werde ich verrückt.«
    Sie lief zu dem kleinen Tisch am Kopfende ihres Bettes und zündete die Lampe an. Es war nicht einmal zwei Uhr. Ihr Herz pochte so heftig, daß sie die Hand auf die Brust legte, wie um dieses hastige Schlagen anzuhalten, das in ihrem ganzen Körper widerhallte. Sie setzte sich auf ihr Bett. »Warum kann ich nicht schlafen wie andere Leute?« fragte sie sich plötzlich. »Werde ich denn nie einen ruhigen Tag haben, eine ruhige Nacht?«
    Die Haare fielen ihr ins Gesicht; sie strich sie zurück und blickte um sich. Diese Möbel, die ihr nicht vertraut waren, sahen befremdlich aus im

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