Adrienne Mesurat
und klangen in jeder Minute anders, gingen von Fröhlichkeit in Überraschung, von Arger in Sorge über. Es war Madame Legras. Endlich stieg sie in den zweiten Stock herauf und entdeckte Adrienne.
»Na, so etwas!« rief sie. »Warum geben Sie keine Antwort?«
Sie verstummte, als sie Adriennes Gesicht sah.
»Ist er gekommen, Adrienne?« fragte sie in fast ängstlichem Ton. »Was hat er gesagt, mein Kind?«
Und da Adrienne sie nicht einmal zu hören schien, trat sie ganz nah an sie heran und beugte sich, eine Hand auf der Sessellehne, so weit herunter, bis ihr Gesicht die Wange des jungen Mädchens streifte.
»Mein armes Kleines«, murmelte sie, »er hat Sie nicht verdient, trösten Sie sich.«
»Lassen Sie mich«, flüsterte Adrienne.
»Nein«, sagte Madame Legras mit sanfter Bestimmtheit, »ich werde Sie nicht allein lassen. Sie müssen mit mir sprechen, mir alles erzählen, was Sie auf dem Herzen haben, Sie müssen sich davon befreien.«
Adrienne blickte ihre Nachbarin plötzlich an. Die Worte, die Madame Legras gerade aussprach, erinnerten sie an das, was Maurecourt zu Beginn ihres Gesprächs gesagt hatte. Es war, als ob ihr Schmerz neu aufflackere und mit einem Schlag ein anderes Aussehen annehme. Bis jetzt war sie in einer Art Betäubung gefangen gewesen, aber der Klang dieser Stimme, die den Doktor nachzuäffen schien, rüttelte sie auf, ließ sie wieder zu sich kommen. Sie fiel der dicken Frau in die Arme und schluchzte. Die Tränen erstickten sie; sie spürte, wie sie auf ihren Lidern und Wangen brannten. Mit beiden Händen umfaßte sie Madame Legras' Arme und wollte etwas sagen, doch ihre Worte verwandelten sich in unverständliche Schreie. Parfümwolken stiegen ihr in die Nase, jener Resedaduft, den sie nur allzugut kannte und der in dieser Minute so viele Erinnerungen aus den letzten Monaten in ihr wachrief. Sie hörte die Stimme von Madame Legras, die kurze Sätze vor sich hin nuschelte und sie dabei fest an ihre Brust drückte.
Nach einigen Minuten machte sie sich los und versuchte aufzustehen.
»Na, na«, sagte Madame Legras unentschlossen, »bleiben Sie, wo Sie sind. Mein Gott, in was für einem Zustand Sie sich befinden!«
Adrienne fiel in den Sessel zurück und schlug die Hände vors Gesicht.
»Was soll nur aus mir werden?« sagte sie unter Tränen.
Madame Legras nahm einen Stuhl und setzte sich ihr gegenüber.
»Mein liebes Kind«, begann sie, »Sie müssen sich damit abfinden.«
»Ich kann nicht«, stöhnte Adrienne.
»Sie werden schon sehen, meine Liebste«, sagte Madame Legras sehr sanft. »Auch ich hatte Herzenskummer, glauben Sie mir, die Zeit heilt alle Wunden.«
Adrienne zuckte die Schultern und suchte in ihrem Rock nach einem Taschentuch.
»Ich will nicht geheilt werden«, sagte sie mit heiserer Stimme.
»Was für eine Idee! Mein armes Kind, wir haben alle gelitten, und wir haben uns alle irgendwann wieder davon erholt. Sie sind nicht die einzige, denken Sie immer daran. Es gibt so viele Leute…«
»Nein«, rief Adrienne und trocknete sich die Augen, »niemanden …«
Plötzlich drehte sie sich gegen die Rückenlehne ihres Sessels, mit gekrümmtem Oberkörper, und preßte ihre Stirn gegen die Fäuste.
»Oh!« stöhnte sie mehrmals.
Madame Legras stand auf.
»Kopf hoch, Kleines«, flehte sie, »nur Mut. Vielleicht ist ja noch nicht alles verloren.«
»Er hat gesagt, daß er mich nicht liebt.«
»Das hat er Ihnen wirklich gesagt? Vielleicht haben Sie sich bloß verhört.«
Bei diesen Worten erhob sich Adrienne und machte einen Schritt auf Madame Legras zu.
»Ich habe mich vielleicht getäuscht, kann sein«, sagte sie mit verstörtem Gesicht. »Nicht wahr?«
»Das würde mich nicht wundern«, antwortete Madame Legras zögernd.
Sie schloß Adrienne in die Arme und führte sie zum Bett, auf das sich beide setzten.
»Mein Kind«, sagte Madame Legras nach einem Seufzer, »beruhigen wir uns und betrachten wir die Dinge einmal gelassen. Sie sind nur ein kleines Mädchen. Sie wissen nicht, daß zwischen dem, was man manchmal sagt, und dem, was man denkt… Nun, dieser Mann hatte vielleicht einen Grund, Ihnen einfach so nein zu sagen. Und es könnten ja auch nur leere Worte gewesen sein. Verstehen Sie doch, jung, wie Sie sind und reich obendrein… Es müßte schier mit dem Teufel zugehen, wenn sich das nicht einrenken ließe … Mein liebes Kleines, stehen Sie auf. Sie kommen jetzt mit zu mir, oder wenn Sie wollen, machen wir eine Spazierfahrt in die Stadt.«
Sie legte
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