Adrienne Mesurat
Tür mit Schwung hinter sich zu und schrie:
»Du willst wissen, warum nicht?«
Die wutentbrannte Stimme ließ sie zusammenzucken. Sie hörte, daß im Nebenzimmer ihre Schwester aufstand und wie am Abend zuvor das Fenster schloß. Ihr Herz begann wie rasend zu schlagen; sie ließ ihre Gartenschere fallen und schüttelte verneinend den Kopf.
»Ich werde es dir sagen«, fuhr Monsieur Mesurat langsam, aber immer lauter werdend fort. »Ich will nicht, daß du in den Garten gehst, ich will nicht, daß du dieses Haus verläßt, solange du mir nicht den Namen dieses Mannes gesagt hast, Adrienne, verstanden?«
Mit kaum hörbarer Stimme sagte sie »Ja«. Eine Schwäche in den Knien zwang sie, sich an der Holztäfelung festzuhalten, die sie unter ihren Händen spürte, sonst wäre sie zu Boden gefallen.
»Vortrefflich«, sagte der Alte. »Geh und kümmere dich ums Haus.«
Er ging hinaus und setzte sich wieder in seinen Korbstuhl. Durch das Gitter an der Tür sah sie, wie er nach seiner Zeitung griff und sie auseinanderfaltete. Einen Moment lang schloß sie die Augen, dann hob sie die Gartenschere auf und betrat den Salon. Ihre Schwester stand mit aufmerksamem Gesicht am Kamin; sie stützte sich auf den Sims und konnte im Spiegel Adrienne durch die Tür im Hintergrund hereinkommen sehen. Ein langer Augenblick verstrich in völliger Stille. Adrienne legte die Gartenschere auf das runde Tischchen und betrachtete die Geranien, die zum Schmuck darauf standen; mit einem Finger streifte sie die Blütenblätter ab, die von der Hitze braun geworden waren, und als sie damit fertig war, blieb sie regungslos stehen. Sie hörte, wie Germaine hinter ihr zum Kanapee ging und sich bemühte, das Fenster zu öffnen. Nach einer Reihe von Versuchen, die offenbar vergeblich waren, bat sie:
»Kannst du mir helfen, das Fenster aufzumachen?«
Ihre Stimme klang sanft und verriet Müdigkeit; sie ließ sich auf das Kanapee fallen, ohne die Antwort ihrer Schwester abzuwarten.
»Wie hast du es denn zubekommen?« fragte Adrienne mürrisch.
»Ich weiß nicht, wahrscheinlich war das leichter.« Adrienne zögerte kurz, dann ging sie ans Fenster und öffnete es. Von sich aus rückte sie das Kanapee zurecht, das Germaine ein wenig verschoben hatte. Schließlich setzte sie sich auf einen Sessel in der Mitte des Salons. Die Aufregung hatte sie so durcheinandergebracht, daß sie nicht recht wußte, was sie tat; sie hörte ihren Atem schneller gehen als gewöhnlich, doch allmählich beruhigte sie sich. Die Sonne berührte ihre Füße und warf auf den Saum ihres Kleides einen länglichen Streifen, den sie so lange beobachtete, bis ihr die Augen schmerzten; sie hob den Kopf. Hauchfeine Wolken zogen über den Himmel und schienen sich im Licht aufzulösen. Die Hitze war drückend. Kein Laut drang von draußen herein, kein Vogelschrei. Sie hörte nicht einmal mehr ihren Vater mit der Zeitung rascheln und erriet, daß er eingeschlafen war.
VII
Einige Tage später saß sie im Eßzimmer am Fenster und blickte auf die Straße. Sie war gerade von einem Spaziergang mit ihrem Vater zurückgekommen und hatte den Hut noch nicht abgelegt. Jeden Tag nahm Monsieur Mesurat sie nun mit, und zu zweit gingen sie bis zum Pfarrhaus am anderen Ende der Stadt, um zu sehen, wie weit die Arbeiten an dem Haus, das dahinter gebaut wurde, inzwischen gediehen waren. Der Dachstuhl stand bereits, und an diesem Nachmittag hatten sie zu Monsieur Mesurats großem Vergnügen – er hatte sogar in die Hände geklatscht – das Bäumchen und die Trikolore gesehen, die auf dem höchsten Punkt des zukünftigen Daches prangten.
Es war kurz vor sechs, aber der Himmel strahlte noch immer so klar wie um die Mittagszeit. Sie dachte darüber nach, daß die wechselnden Gesichter des Himmels die einzigen Veränderungen waren, die sie an der Landschaft hier vor ihren
Augen beobachten konnte. Die Linden der Villa Louise blieben mehr oder weniger gleich, die rosafarbenen und roten Geranien mit ihren breiten, pelzigen Blättern wuchsen folgsam immer wieder nach. Sie neigte etwas den Kopf und erblickte den geschmeidigen Baum, der seine Aste sanft über dem Dach des weißen Hauses wiegte. Ihr wurde eng ums Herz. In ihrem Leben veränderte sich nichts. Mehrmals war sie bei Tisch versucht gewesen zu sagen: »Also gut, ich liebe Maurecourt, den Arzt aus der Rue Carnot«, um zu sehen, was geschehen würde, doch sie schaffte es nie, diese Worte auszusprechen. Sie hatte auch bemerkt, daß jedes Mal, wenn
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