Adrienne Mesurat
hatte.
»Wer?« wiederholte er.
»Ich kenne seinen Namen nicht«, stotterte das junge Mädchen.
»Du kennst seinen Namen nicht!« brüllte Antoine Mesurat und packte Adrienne an den Schultern, »du traust dich, mich für einen solchen Esel zu halten?«
In einem Anfall blinder Wut verlor er jede Beherrschung und schüttelte sie mit aller Kraft. Sie hörte, wie ihre Zähne bei jeder Bewegung ihres Kopfes aufeinanderschlugen und stieß erstickte Schreie aus. Stumm vor Schrecken saß Germaine auf ihrem Stuhl und rührte sich nicht. Plötzlich glitt Adrienne an die Brust ihres Vaters und fiel dem Alten schwer wie ein Stein vor die Füße. Sie war ohnmächtig geworden.
VI
Sie schlug die Augen erst in ihrem Zimmer wieder auf und hörte im selben Moment Schritte, die sich von ihr entfernten, eine Tür, die zuschlug, und dann hinter der Tür undeutliches Gemurmel. Kurz darauf herrschte neuerlich Stille. Sie lag angezogen auf ihrem Bett. Kleine Mücken flogen um die Lampe und summten mit ihren feinen Stimmen. Es war heiß. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus, und nachdem sie sich mit dem Unterarm ein wenig aufgerichtet hatte, stützte sie sich auf den Bettrand und blickte umher. Ihre Augen blieben an dem Spiegelschrank hängen, den ihr Vater ihr zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte. In dieser Erinnerung lag etwas so Lächerliches und Grausames, daß sie ein angewidertes Stöhnen nicht unterdrücken konnte. Im Spiegel sah sie, daß sich ihre Frisur aufgelöst hatte und die Haare ihr auf die Schultern herabfielen, und obwohl sie über diese Unordnung erschrak, kam sie nicht auf den Gedanken, etwas dagegen zu unternehmen, sondern schaute sich nur weiter an. Ihre Wangen waren weiß, und ihr Gesicht drückte eine Niedergeschlagenheit aus, die sie nicht an sich kannte. Ihr Mund war leicht geöffnet. Sie kam sich auf einmal gealtert vor, wandte den Blick aber nicht ab. Hatten sich ihre Züge irgendwie verändert? Sie bemerkte, daß die Lampe Schatten unter ihre Lider zeichnete. Ihr Gesicht wirkte dadurch abstoßend. »Ich sehe aus wie eine Tote«, dachte sie. Nachdem sie sich eine ganze Weile im Spiegel angestarrt hatte, glaubte sie, eine dunkle, zitternde Linie um ihren Kopf herum wahrzunehmen, dann schienen Gesicht und Schultern sich zu verdoppeln, und ein zweites Bild von ihr stieg nach einem kurzen Zögern langsam über dem ersten auf. Sie hatte das Gefühl, irgend etwas ziehe an ihren Augen, aber es gelang ihr nicht, sie zu schließen. Sie betrachtete diese beiden Personen, die vor ihren Pupillen auf und ab tanzten, obwohl sie sich überhaupt nicht rührten. In ihrem Verstand setzte jeder Gedanke aus. Plötzlich fiel sie auf ihr Kissen zurück, als hätte sie einen Schlag auf den Kopf bekommen. Sie schlief.
Als sie erwachte, war hellichter Tag, aber das Aufstehen fiel ihr schwer, und so blieb sie noch einige Minuten im Bett. In einer halben Stunde würde sie unten sein wie gewöhnlich. Sie würde ihren Vater die Überschriften der Zeitung vorlesen hören, sie würde ihre Schwester den Boden ihrer Tasse prüfen und sie dann mit einem Zipfel ihrer Serviette auswischen sehen, wie sie es immer tat, bevor sie sich ihren Kaffee eingoß. Und das Leben würde weitergehen wie gehabt, trotz der schrecklichen Szene vom Vorabend, während doch in ihr alles verändert schien.
Und als sie in das Eßzimmer hinunterkam, sah sie tatsächlich Monsieur Mesurat, der die entfaltete Zeitung mit ausgestreckten Armen vor sich hielt. Da der Tag sehr heiß zu werden versprach, hatte er sein schwarzes Alpakajackett ausgezogen und über eine Stuhllehne gehängt. In seinem roten Gesicht grub die Aufmerksamkeit kleine Falten rund um Augen und Nase, denn er war weitsichtig und las immer nur grimassierend. Er bemerkte Adrienne, die hereintrat und ihm aus den Augenwinkeln einen Blick zuwarf.
»Guten Morgen«, grüßte er in seinem jovialen Tonfall.
»Guten Morgen, Adrienne«, sagte auch Germaine, die den Zucker in ihrer Tasse umrührte.
»Guten Morgen«, antwortete sie.
Sie setzte sich. Es war wirklich so, nichts hatte sich verändert. Mit etwas wie Verwunderung betrachtete sie das rotkarierte Tischtuch und die Porzellantassen. Im Bauch der metallenen Kaffeekanne sah sie ihr Gesicht auf eine Art verzerrt, zornentstellt, die ihr als kleines Mädchen so viel Spaß gemacht hatte. Sie überlegte eine Sekunde, goß sich ihren Kaffee ein und hörte, als würde sie der Macht eines Zaubers nachgeben, ihre eigene Stimme, die auch an diesem
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