Adrienne Mesurat
Morgen wie an allen anderen fragte:
»Wie warm wird es heute, Papa?«
Einen Augenblick herrschte Schweigen, genau so lange wie man braucht, um oben auf der dritten Seite der Zeitung die Antwort auf diese Frage zu finden, und hinter den großen, nach Druckerschwärze riechenden Blättern verkündete die Stimme ihres Vaters:
»Aussichten für den siebzehnten: leichter Temperaturanstieg, sechsundzwanzig Grad.«
Sie fühlte sich besiegt. Verstohlen hob sie die Augen und sah, wie Germaine mit Monsieur Mesurat einen Blick wechselte. Dieser stumme Glückwunsch, den sie einander aussprachen, erfüllte sie mit Abscheu, und sie wandte den Kopf ab. Draußen war der Himmel weiß und strahlte in einem endlosen und gewaltigen Licht, das der Blick kaum zu ertragen vermochte. Von ihrem Platz aus konnte Adrienne zwischen den kümmerlichen Linden die Villa Louise sehen. Warum war sie nicht die Tochter dieser Madame Legras! Vielleicht würde sie dann weniger leiden. Sie spürte, daß ihr Vater und ihre Schwester sie beobachteten, und konnte deren Schweigen nicht länger ertragen.
»Wann kommen die Mieter von gegenüber?« fragte sie, um irgend etwas zu sagen.
Monsieur Mesurat legte seine Zeitung nieder und blickte über seinen Kneifer hinweg vor sich hin. Er schien nachzudenken.
»Die vom letzten Jahr, warte mal…«
»Sind im Juni gekommen«, sagte Germaine, während sie ein Stück Brot abbrach, »aber das ist kein Grund, daß auch Madame Legras um dieselbe Zeit eintrifft.«
»Natürlich nicht«, sagte der Alte mit Überzeugung.
Er warf einen letzten Blick auf seine Zeitung und tunkte ein halbes Croissant in seinen Kaffee.
»Warum willst du das wissen?« fragte Germaine mit gespielt gleichgültiger Stimme.
»Mir liegt gar nichts daran. Ich habe das bloß so gesagt…«
»Trotzdem hast du gefragt«, beharrte die alte Jungfer.
Adrienne zuckte die Achseln und gab keine Antwort. Monsieur Mesurat lehnte seine Zeitung an die Kaffeekanne und begann, beim Essen zu lesen.
»Die Regierung wird stürzen«, sagte er zwischen zwei Bissen, »das ist sicher.«
Heimlich musterte er seine Töchter über den Rand der Zeitung hinweg. Adrienne senkte den Kopf und konnte sich nicht entschließen, ihren Kaffee zu trinken. Germaine ließ sie nicht aus den Augen.
Ein paar Minuten nach dem Frühstück holte Adrienne die Gartenschere aus einer Lade in der Küche und wollte hinausgehen. Ihr Vater hatte seinen Panamahut aufgesetzt, doch entgegen seiner Gewohnheit brach er nicht zu seinem Spaziergang auf, sondern setzte sich mit der Zeitung in seinen Korbstuhl, oben auf der Außentreppe. Er entdeckte Adrienne, die vom Flur her auf ihn zukam, und fragte:
»Wo willst du hin?«
»In den Garten, Blumen schneiden.«
»Heute ist nicht der richtige Tag«, sagte eine Stimme.
Die junge Frau drehte sich um und sah ihre Schwester, die sie vom Kanapee durch ein Fenster des Salons beobachtete. Es verschlug ihr die Sprache.
»Hast du gehört?« sagte Monsieur Mesurat.
»Die Geranien sind welk«, begann Adrienne nach einem Augenblick von neuem. »Ich muß frische holen.«
Sie war rot geworden und hielt die Gartenschere in ihrer rechten Hand mit aller Kraft umklammert.
Monsieur Mesurat streckte die Beine vor ihr aus, als wollte er sie am Vorbeigehen hindern.
»Hast du gehört, was deine Schwester gesagt hat?« fragte er noch einmal.
Adrienne lehnte sich gegen den Türstock und sah ihren Vater an. Unter der heruntergebogenen Krempe des Panamas wirkten die Augen des Alten schwarz, aber der Schatten fiel nicht bis über die fleischige Nase und die feisten Backen, die im gelblichen Bart verschwanden. Sein Gesicht überzog sich mit Falten, und er lächelte zufrieden.
»Du schaust mich an?« fragte er nach einer Weile.
»Ich möchte hinausgehen«, sagte sie mit erstickter Stimme.
»Nein, du wirst nicht hinausgehen«, antwortete Monsieur Mesurat, wobei er seinen Satz durch eine Bewegung mit der Zeitung unterstrich.
»Warum nicht?« flüsterte sie.
Er antwortete nicht sogleich, sondern blickte sie nur fest an. Sie sah die Zeitung in seinen Händen zittern und wich, da sie plötzlich Angst bekam, ein paar Schritte in den Flur zurück. Mit einem Ruck erhob er sich und folgte ihr. Sie wich noch weiter zurück, glitt an der Wand entlang, die Innenfläche ihrer linken Hand gegen die warme Holztäfelung gepreßt. Ein nervöses Verlangen zu schreien packte sie, doch ihre Zähne blieben fest zusammengebissen. Sie sah ihren Vater immer näher kommen. Er schlug die
Weitere Kostenlose Bücher