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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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hatte ihre Kraft sie verlassen, und es gelang ihr nicht, sich zu befreien. Sie zerrte an ihrem Arm und schrie:
    »Laßt mich in Frieden! Laßt mich in Frieden!«
    »Willst du wohl aufhören zu schreien!« stieß Monsieur Mesurat hervor. »Die Nachbarn werden noch zusammenlaufen. Halt den Mund!«
    »Warte!« rief Germaine.
    Sie ließ den Arm ihrer Schwester los, stand auf und schleppte sich, so schnell sie konnte, ans Fenster, um es zu schließen.
    »Jetzt schrei nur«, sagte sie und lehnte sich an die Wand.
    Monsieur Mesurat stand ebenfalls auf. Das Blut stieg ihm in die Wangen, doch er sprach noch immer mit der beherrschten Stimme eines Menschen, der sich völlig in der Gewalt hat.
    »Es geht nicht darum zu schreien«, sagte er. »Adrienne wird uns erklären, was los ist.«
    Er nahm sie am Arm. Sie war bleich und stützte sich mit einer Hand auf die Lehne ihres Sessels.
    »Was willst du, Papa?« fragte sie.
    »Daß du mit uns redest, uns sagst, was du hast.«
    »Ich habe nichts.«
    »Dann spiel doch«, sagte Germaine, während sie wieder an ihren Platz ging.
    Adrienne antwortete nicht. Ihr war, als schliche sich etwas Unbekanntes in diesen Raum, den sie so gut kannte. Eine rätselhafte Veränderung vollzog sich; es war ein Gefühl, wie man es zuweilen in Träumen spürt, wenn einem Orte, die man mit Sicherheit nie zuvor gesehen hat, vertraut erscheinen. Auf die anfängliche Neugier folgt das Erschrecken, dann die panische Angst, nicht fliehen zu können, bewegungsunfähig und gefangen zu sein. Sie fragte sich, ob sie nicht verrückt wurde, und blickte um sich. Nicht das bekannte Aussehen der Dinge erstaunte sie, sondern vielmehr ihre Fremdheit und Ferne; doch wie in einem Traum überfiel sie das Entsetzen, sich nicht rühren zu können, von einer unsichtbaren Kraft zwischen diesem Polsterstuhl und diesem Tisch gefangengehalten zu werden. Ihre Augen blieben eine Sekunde an der Lampe hängen: Sie sah, daß sie nicht mehr rußte, und von diesem Detail schloß sie auf die Verwirrung, in der sie befangen gewesen sein mußte, seit sie sich an das runde Tischchen gesetzt hatte, denn die Flamme war kleiner gedreht worden und sie hatte nichts davon bemerkt. Monsieur Mesurais Stimme ließ sie wieder zu sich kommen.
    »Wenn du nicht reden willst, dann werde ich es tun«, sagte er und beugte sich zu dem jungen Mädchen. »Du sagst, daß du nichts hast, aber du träumst, du bist zerstreut, weigerst dich, mit uns zu spielen. Andererseits habe ich erfahren…«
    Germaine machte eine abwehrende Bewegung. Monsieur Mesurat warf ihr einen Seitenblick zu und fuhr fort:
    »Ich habe von jemandem, dessen Namen ich nicht nennen werde, erfahren, daß du seit einer Weile nachts weggehst. Du bist eine Stunde, zwei Stunden oder was weiß ich wie lange draußen. Stimmt's? Sag, daß es nicht wahr ist.«
    Sein Gesicht kam dem von Adrienne ganz nah. Sie sah seine Augen mit den schweren Lidern, seine fleischige, von feinen Äderchen überzogene Nase. Die Worte, die sie aussprechen wollte, blieben ihr im Hals stecken.
    »Das genügt dir nicht?« begann er von neuem. »Du hältst dich für schlau, du bildest dir ein, wir wüßten nicht, was du tust, stimmt's?
    Er hielt einen Augenblick inné, dann fuhr er fort:
    »Jeden Nachmittag zwischen halb sechs und sechs gehst du in Germaines Zimmer hinauf, du lehnst dich aus dem Fenster, du lauerst…«
    »Das ist nicht wahr«, hauchte das junge Mädchen.
    »Germaine!« rief Monsieur Mesurat.
    Germaine lief dunkelrot an und schwieg.
    »Mir reicht das alles«, schrie der Alte und schlug mit der Faust auf den Tisch, »verstehst du; ich will wissen, was los ist, hörst du. Du verbirgst mir irgend etwas. Willst du wohl reden?«
    Er schüttelte sie am Arm.
    »Du triffst dich mit jemandem, stimmt's? Gib zu, daß es stimmt!«
    Adrienne stieß vor Schmerz einen Schrei aus und wollte sich befreien, aber die Hand ihres Vaters klammerte sich fest um ihren Arm.
    »Nein, ich laß dich nicht los«, sagte er. »Du wirst mir antworten. Du liebst jemanden, stimmt's?«
    Er schüttelte sie so heftig, daß sie beinahe hingefallen wäre. Sie sah das Entsetzen in den Augen ihrer Schwester und fühlte, wie auch diese von einer Art Panik ergriffen wurde.
    »Ja«, schrie sie mit einer schrillen Stimme, deren Klang sie selbst verwunderte.
    Monsier Mesurat lockerte seinen Griff ein wenig.
    »Aha! Wer ist es?« fragte er.
    Einen Augenblick trat Stille ein, nur das Keuchen des Alten war zu hören, den die Anstrengung außer Atem gebracht

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