Adrienne Mesurat
können, ihr Leben hänge davon ab, wie das Wetter zwischen vier und fünf Uhr sein würde. Um eine solche Verfassung wirklich zu verstehen, muß man sich vielleicht die Lebensumstände der Schwestern in Erinnerung rufen. Es mag in der Tat verwunderlich erscheinen, daß sie, nachdem sie nun schon so lange in unerträglicher Monotonie gelebt hatten, nicht mehr die Geduld aufbrachten, einen für die Ausführung ihres Plans günstigen Tag abzuwarten. Wenn es zwischen vier und fünf regnete, würde Adrienne das Haus nicht verlassen und könnte folglich ihren Brief nicht so rechtzeitig einwerfen, daß der Droschkenkutscher ihn noch vor Einbruch der Nacht erhielt. Aber wenn Germaine nicht am nächsten Tag fortging, konnte sie ihre Reise dann nicht auf den übernächsten oder sogar auf die kommende Woche verschieben? So ist nun einmal das Menschenherz. Es läßt lange Jahre verstreichen und denkt keine Minute daran, gegen sein Schicksal aufzubegehren, aber dann kommt ein Augenblick, in dem es mit einem Schlage spürt, daß es nicht mehr weiterkann und daß sich noch in derselben Stunde alles verändern muß, und es fürchtet, alles zu verlieren, wenn dieses Vorhaben, von dem es noch einen Tag zuvor nicht die leiseste Ahnung hatte, sich auch nur um einen einzigen Tag verzögert. Deshalb wälzte sich Germaine jetzt auf dem Kanapee, auf dem sie so viele Stunden reglos zugebracht hatte, unruhig hin und her, von Qualen gepeinigt, unter denen sie die Hände auf der Brust faltete oder ihr Gesicht verbarg, um ihr Stöhnen zu ersticken, zugleich aber horchte sie auf die Wanduhr, die jede Viertelstunde schlug, und spähte nach einer Aufheiterung am Himmel, die die launischen Winde ihr mal versprachen, dann wieder verweigerten.
Der Nachmittag kam ihnen schrecklich lang vor. Dabei hatte es seit dem Mittagessen nicht mehr geregnet, der Himmel nahm langsam eine weißliche Farbe an, und es sah ganz so aus, als sollte sie bis zum Ende des Tages anhalten. Die quälende Ungeduld Germaines hatte auch ihre Schwester angesteckt, die sich schließlich in die Nähe des Kanapees gesetzt hatte, um, sobald sich eine Gelegenheit bot, mit der Kranken sprechen zu können und die letzten Einzelheiten der Verschwörung zu klären. Doch selbst wenn Monsieur Mesurat gewarnt worden wäre vor dem, was sich hier zusammenbraute, er hätte nicht zuverlässiger auf seinem Posten im Salon bleiben können. Er saß in seinem Polsterstuhl und studierte mit der ganzen Aufmerksamkeit der Langeweile den Anzeigenteil seiner Zeitung; hin und wieder unterbrach er seine Lektüre, um zu gähnen oder seinen Töchtern banale Fragen zu stellen, die ihre Gereiztheit nur noch steigerten. Um sich nichts anmerken zu lassen, hatte Adrienne ein Buch genommen und tat, als höre sie die Fragen ihres Vaters nicht. Germaine dagegen antwortete einsilbig. Zwei Stunden verrannen.
Endlich erhob sich der Alte und ging für einen Augenblick auf die Außentreppe hinaus.
»Adrienne, die Briefmarken«, flüsterte Germaine mit gehetzter Stimme. »Rechts in der kleinen Schublade im Sekretär. Und schau nach, ob in der unteren Lade nicht irgendwo Geld steckt.«
Das junge Mädchen lief auf Zehenspitzen zum Sekretär und zog eine Schublade heraus, die sie geräuschlos wieder schloß. Dann kam sie zum Kanapee.
»Ich habe die Briefmarken«, sagte sie halblaut.
»Und das Geld?«
»Ich hatte keine Zeit nachzuschauen, er kommt gleich zurück.«
Germaine machte eine mißmutige Geste.
»Nein, nein. Er hat sich nicht gerührt. Ich sehe ihn von hier. Wenn er hereinkommt, warne ich dich. Geh schon.«
Sie schob sie mit der Hand fort. Adrienne lief wieder an den Sekretär und zog die Lade heraus, von der ihre Schwester gesprochen hatte. Sie war bis an den Rand mit Papieren vollgestopft, und unter einem Packen bezahlter Rechnungen erblickte sie eine Brieftasche, nach der sie griff; gerade als sie diese durchsuchen wollte, hörte sie Monsieur Mesurat wieder hereinkommen und die Tür hinter sich schließen. Zu Tode erschrocken stieß sie die Lade zu und hatte nur noch Zeit, die Brieftasche der Kranken in den Schoß zu werfen. Ihr Vater trat herein.
»Du liest nicht mehr?« fragte er, als er sie mitten im Zimmer stehen sah.
»Nein«, sagte sie und wandte sich ein wenig ab, damit er nicht bemerkte, daß sie ganz rot geworden war.
»Das Wetter scheint sich zu bessern«, meinte er und setzte sich in seinen Polsterstuhl. »In einer Stunde können wir Spazierengehen.«
Sie setzte sich und nahm ihr Buch
Weitere Kostenlose Bücher