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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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würden, war ihr bang zumute. Es genügte nämlich, daß der Vater, wenn sie am Postamt vorbeikamen, die Straße einen Augenblick früher als sonst überquerte, und schon konnte sie ihre Briefe nicht einwerfen. Dies geschah jedoch nicht, und es gelang Adrienne, mit ihren Briefen genau so zu verfahren, wie sie es sich ausgedacht hatte. Sie lief dicht an der Mauer entlang, und vor der Post steckte sie die Umschläge dann mit einer flinken Bewegung, die nicht den geringsten Verdacht weckte, in den Schlitz des Briefkastens. Dieser Erfolg bereitete ihr so große Freude, daß sie unwillkürlich nach dem Arm ihres Vaters griff, als wollte sie sich, in einer Anwandlung von Zärtlichkeit, beim Gehen auf ihn stützen.
    »Was hast du denn?« fragte der Alte verdutzt.
    Sie errötete und zog ihren Arm zurück.
    »Ich fühlte mich plötzlich ein bißchen müde«, stotterte sie.
    »Du hast noch keine fünfzig Schritte gemacht, das ist lächerlich.«
    Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Kurz darauf standen sie vor der kleinen lindenbewachsenen Gartenanlage, mit der die Gemeindeverwaltung ihre Stadt bedacht hatte. Vom Rathaus her schlug es Viertel nach vier, und gruppenweise strömten die Spaziergänger in den Park, nicht ohne des öfteren prüfend zum Himmel hinauf zu blicken. Nachdem Adrienne und ihr Vater durch das Eingangstor geschritten waren, nahmen sie die Hauptallee bis zum Musikpavillon, dessen rotes Blechdach und schlanke Säulen schon von weitem zu sehen waren. Rings um dieses Bauwerk, das offenbar eine Imitation chinesischer Architektur sein sollte, hatte man Klappstühle aufgestellt, von denen schon viele besetzt waren, doch eine seit mehr als acht Jahren bestehende Gewohnheit garantierte Monsieur Mesurat und seiner Tochter zwei gute Plätze ein Stück hinter dem Kapellmeister.
    »Papa«, sagte sie, »jemand sitzt auf meinem Platz.«
    Es stimmte. Eine korpulente, in Braun gekleidete Dame saß auf Adriennes Stuhl.
    »Auch das noch, wie ärgerlich!« antwortete Monsieur Mesurat, der zum schüchternsten Menschen der Welt wurde, sobald er einen Fuß auf die Straße setzte. »Geh und erkläre dieser Dame…«
    Und er selbst blieb ein wenig zurück, während seine Tochter auf die Delinquentin zuschritt.
    Adrienne trat vor sie hin und sagte:
    »Ich bedaure, Madame…«
    Doch sie verstummte augenblicklich. Es war Madame Legras.
    »Was bedauern Sie denn, Mademoiselle?« fragte Madame Legras, während sie den Kopf hob.
    Ihre Stimme klang ironisch und gelassen zugleich, und in ihren Augen lag ein belustigter Ausdruck. Obwohl sie nicht älter als vierzig zu sein schien, war sie bereits vom Alter gezeichnet, doch ihr ovales, ein wenig zu volles Gesicht hatte in seiner Ebenmäßigkeit etwas Gefälliges. Ihre gekrümmte Nase, ihre fleischigen Lippen verrieten eine Sinnlichkeit, die recht gut zu jenem würdevollen Aussehen paßten, das Gesichter bekommen, sobald sie Fett ansetzen. Ihre Sergejacke mit Taftaufschlägen war leicht geöffnet und ließ ein reiches Spitzenjabot hervorschauen, das sich verschwenderisch über einer weißen Bluse ausbreitete. Ein Schleier, der rundherum von ihrem Hut herabfiel, verbarg eine offensichtlich üppige Haarpracht. Starker Pudergeruch strömte von ihr aus.
    »Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß ich auf Ihrem Stuhl sitze«, fuhr sie fort. »Es wäre jetzt das dritte Mal, daß mich jemand vertreibt. Ich rühre mich nicht von der Stelle.«
    Und als bestehe zwischen den beiden Dingen irgendein Zusammenhang, fügte sie übergangslos hinzu:
    »Übrigens kenne ich Sie. Sie sind meine Nachbarin aus der Villa des Charmes.«
    Adrienne nickte. Sie war sprachlos vor Verblüffung und fühlte sich hin und her gerissen zwischen dem Ärger, daß diese Frau einfach ihren Stuhl besetzt hielt, und dem Staunen, plötzlich Madame Legras gegenüberzustehen.
    »Macht nichts«, murmelte sie schließlich. »Wir setzen uns woanders hin.«
    »Setzen Sie sich doch neben mich. Mit wem sind Sie denn hier?«
    Monsieur Mesurat war nähergekommen und hörte mit betretener Miene zu. Adrienne stellte ihn unbeholfen vor, dann nahmen sie beide Platz, Adrienne zwischen Madame Legras und ihrem Vater. Ohne daß es ihr recht bewußt war, schämte sie sich des alten Mannes und wandte sich ihrer Nachbarin zu, so als wollte sie diese daran hindern, Monsieur Mesurat anzusehen. Aber Madame Legras beugte neugierig den Kopf bald nach vorn, bald zurück und musterte ihn aus den Augenwinkeln. Er kehrte sich ein wenig ab, denn diese

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