Adrienne Mesurat
Aufmerksamkeit war ihm peinlich, und es verstimmte ihn sehr, seinen gewohnten Platz nicht einnehmen zu können. Welche Figur würde er abgeben, wenn ihm jemand den Stuhl, auf dem er nun saß, streitig machte?
»Ihr Papa sieht nett aus«, flüsterte Madame Legras Adrienne ins Ohr. »Schüchtern, hm?«
»Ja, Madame.«
»Das sieht man. Ein schöner Kopf. Ich wette, er war Offizier.«
Adrienne wurde rot. Ihr schien, sie könne um nichts in der Welt eingestehen, welchen Beruf ihr Vater ausgeübt hatte.
»Seine Militärzeit hat er in Bourges verbracht«, stammelte sie.
Dann fügte sie hastig hinzu, während sie schon ihr Täschchen öffnete: »Ich gehe nur eben das Konzertprogramm kaufen.«
»Ich habe eines«, sagte Madame Legras.
Sie reichte ihr ein Blatt, das sie in der Hand hielt. Einen Augenblick betrachtete Adrienne dieses Programm, auf dem sie alles nur wie durch einen Schleier sah, dann gab sie es zurück, ohne ein einziges Wort gelesen zu haben. In diesem Moment beugte Madame Legras sich ein wenig weiter vor und sagte zu Monsieur Mesurat:
»Wie ich sehe, sind Sie musikalisch, Monsieur?«
Bei diesen freundlichen und leeren Worten wurde der Alte rot. Er strich sich mit dem Daumen über den Bart und antwortete kurz angebunden, daß er die Konzerte des Musikvereins nie versäume. Madame Legras nickte beifällig und lächelte. Sie hatte lange, regelmäßige Zähne, auf die sie offensichtlich stolz war.
»Sie sagten, er ist Offizier in Bourges gewesen«, flüsterte sie Adrienne ins Ohr. »Wohnen Sie schon lange in La Tour-l’Evèque?«
Das junge Mädchen wollte gerade antworten, als laute Rufe von allen Seiten es daran hinderten; die Musiker kamen herbei, und die letzten Nachzügler, die noch um den Pavillon strichen, weil sie sich nicht entschließen konnten, endlich Platz zu nehmen, stürzten zu den freigebliebenen Stühlen und setzten sich geräuschvoll hin. Gleich darauf wurden die Instrumente gestimmt. Das Orchester begann mit einem bravourösen Stück.
Viel zu lange schon hörte Adrienne diese Konzerte, als daß sie noch ein besonderes Vergnügen daran gefunden hätte. Ihr Gehör war nämlich recht gut, und sie begriff, daß diese Musiker mittelmäßig spielten, daß sie nicht immer den Takt hielten, daß die Qualität ihrer Instrumente sich nur schlecht mit den Absichten des Komponisten vertrug. An diesem Tag jedoch spürte sie schon gleich nach den ersten Akkorden eine seltsame Ergriffenheit. Wahrscheinlich hatten die jüngsten Ereignisse in ihrem Leben sie empfindsamer gemacht. Sie lauschte einer langen Phrase, die mit einer Art Nonchalance allmählich schneller wurde und dann durch einen jähen Aufschwung in einen immer rasanteren Rhythmus überging. Sogleich war sie gerührt wie von einer Stimme, die ihr unerwartet etwas über sie selbst erzählt hätte, in einer Sprache, die nur sie allein verstehen konnte, und zwischen ihr und dem Orchester stellte sich jene rätselhafte Übereinstimmung her, jenes geheime Zwiegespräch, welches der mächtigste Zauber der Musik ist und erklärt, warum sie so große Gewalt über das menschliche Herz besitzt. Sie lauschte. All der Frohsinn und all die Traurigkeit, die sich in den Themen abwechselten und einander hervorriefen, zerrissen ihr das Herz und entlockten ihren Augen zugleich Freudentränen. Sie erkannte sich in diesen unterschiedlichen Rhythmen wieder, die ihr vorkamen wie der eigene Herzschlag. Sie dachte an ihren Schmerz, ihre Einsamkeit und an ihr schallendes Lachen, draußen auf der großen Landstraße, das trauriger geklungen hatte als jedes Schluchzen. Plötzlich hatte sie das Gefühl zu ersticken. Ihr war, als erlebte sie in einer einzigen Minute alles noch einmal, was sie während langer Monate durchlitten hatte, und dieses Leiden war um so qualvoller und gewissermaßen um so wahrer, als es durch eine Stimme ausgedrückt wurde, die nicht die ihre war. Zum ersten Mal hörte sie von ihrem eigenen Unglück erzählen, und es schien ihr furchtbar. Vielleicht hätte sie sich an dieses Unglück gewöhnt, so wie man sich an eine schlimme Wunde gewöhnt, die nicht heilen will, aber diese Musik erklärte alles, führte all die Gründe an, warum sie litt. Ein Gefühl der Scham beschlich sie, und sie schaute verstohlen zu Madame Legras, als müßte sie befürchten, die Umsitzenden hätten begriffen, um wen es in dieser traurigen Erzählung ging, die dicke Dame schien jedoch unempfänglich für die Schönheiten, die Adrienne zutiefst erschütterten, und sie
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