Adrienne Mesurat
wieder zur Hand. Die Aufregung ließ ihr Herz heftig pochen, und einen Augenblick fürchtete sie, ihr Vater könnte den keuchenden Atem hören, der aus ihrer Brust drang: doch er summte vor sich hin und wiegte dabei den Kopf nach links und nach rechts. Ein paar Minuten später war er eingenickt.
»Nun?« fragte Adrienne und beugte sich zu ihrer Schwester. »Die Brieftasche?«
»Leer«, antwortete Germaine. »Such noch in einer anderen Lade.«
»Ich kann nicht«, antwortete das junge Mädchen mit Nachdruck.
»Du willst also nicht, daß ich fortgehe?«
Adrienne biß sich auf die Lippen. Im Geiste sah sie das weiße Haus vor sich und das Innere jenes Raums, den man vom oberen Zimmer aus so gut überblicken konnte. Sie hatte das Gefühl, das Geschick ihrer Liebe sei mit dem Weggehen ihrer Schwester verknüpft. Germaine erriet die flüchtigen Gedanken, die über das Gesicht des jungen Mädchens huschten. Sie ließ nicht locker.
»Ich kann ohne Geld nicht fortgehen. Such weiter. Er wacht nicht auf.«
Adrienne senkte den Kopf und schien angestrengt nachzudenken.
»Wieviel brauchst du?« fragte sie.
»Vierhundert Franc für die Reise«, antwortete Germaine, ohne lange zu zögern.
»Und dann?«
Germaine winkte ab, als wollte sie sagen, nur die unmittelbare Zukunft sei von Bedeutung.
»Ich habe meinen Schmuck«, erwiderte sie schließlich. »Damit komme ich schon durch.«
Und ungeduldig fügte sie hinzu:
»Das Wichtigste ist doch, daß ich gehe, oder? Ich brauche das Geld.«
Adriennes Augen spiegelten die Verwirrung, in der sie sich befand. Sie schlang die Hände auf ihrem Schoß ineinander.
»Ich kann dir die Summe leihen«, stieß sie mühsam hervor.
Germaine blickte sie ungerührt an.
»Von deinen Ersparnissen?« fragte sie.
»Ja.«
»Gut. Leih mir fünfhundert Franc.«
Adrienne erhob sich und schlich auf Zehenspitzen aus dem Raum. Draußen stöhnte sie auf. Es kostete sie große Überwindung, sich von diesem Geld zu trennen, das sie auf Geheiß ihres Vaters seit sieben Jahren auf die Seite legte, doch sie sagte sich, daß sie ihrer Schwester gern das Doppelte gegeben hätte, nur damit sie von zu Hause wegging. Sie stieg in ihr Zimmer hinauf und holte aus ihrem Schrank eine Schatulle aus Olivenholz, die sie mit einem kleinen Messingschlüssel öffnete. Fast dreihundert Goldmünzen lagen darin, lauter fein säuberlich in Papier gewickelte Röllchen. Es waren Geschenke, Weihnachts-, Oster- und Geburtstagsgeschenke von Monsieur Mesurat und einer vor kurzem verstorbenen alten Cousine. Sie nahm eine Rolle mit fünfundzwanzig Münzen, stellte die Schatulle zurück und sperrte den Schrank wieder ab. Eine Sekunde lang verharrte sie reglos mitten in ihrem Zimmer. War es Freude oder Bedauern, was ihr das Herz so zusammenzog? Sie ging ans Fenster, stützte sich auf die Brüstung und betrachtete das weiße Haus an der Straßenecke. Der Anblick gab ihr Mut. Sie erinnerte sich an die Briefe, die sie einwerfen mußte, zog sie aus ihrem Kleid, machte die Umschläge zu und klebte die Marken darauf. Dann ging sie wieder hinunter.
Ihr Vater schlief immer noch, aber in Germaines Gesichtszügen war große Unruhe zu lesen. Sie winkte Adrienne näherzukommen.
»Hast du das Geld?« fragte sie.
Adrienne gab ihr das Röllchen. Ohne ein Wort zu verlieren, prüfte Germaine, ob es gut verschlossen war, und schob es in ihr Kleid. Dann ließ sie sich in ihre Kissen zurückfallen.
»Was hast du da oben getan?« fragte sie vorwurfsvoll. »Er hätte deine Schritte hören können. Sind die Briefmarken auf den Umschlägen?«
Adrienne nickte und setzte sich in einen Lehnstuhl. Jetzt hieß es nur noch warten.
XI
Endlich schlug es vier, und Monsieur Mesurat erhob sich aus seinem Polstersessel, um mit seiner Tochter spazierenzugehen. Adrienne war bereits fertig. Sie hatte eine kleine blaue Jacke angezogen, deren Ärmel sich an den Schultern bauschten, und einen schwarzen Strohhut aufgesetzt, der hinten leicht nach oben gebogen war, wie um der dichten Fülle ihres Haars mehr Platz zu lassen. Ihre Finger steckten in Zwirnhandschuhen und hielten einen Regenschirm, an dessen Griff sie nervös herumspielten:
»Na, los«, sagte der Vater, der zwar ihre Ungeduld bemerkte, die Ursache dafür aber nicht erriet, »jetzt kommst du hinaus.«
Und mit einem Blick auf den Himmel fügte er hinzu:
»Wenn das Wetter sich hält, gibt es im Park ein Konzert.«
Sie machten sich gleich auf den Weg. Obwohl Adrienne genau wußte, wie sie gehen
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