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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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am Arm.
    »Komm!« sagte er.
    »Auf Wiedersehen! Ich stelle mich auf dem Platz unter«, rief Madame Legras, die einen winzigen blauen Seidenschirm geöffnet hatte.
    Sie wechselte mit Adrienne, die sich zu ihr umdrehte, einen verschwörerischen Blick und verschwand in der Menge.

 
XII
     
    Als sie durch das Gartentor der Villa des Charmes trat, hatte Adrienne das Gefühl, in einen Kerker zurückzukehren. Von ihrer Unterhaltung mit Madame Legras brachte sie eine schmerzliche Sehnsucht nach Freiheit heim. Diese Frau, die kommen und gehen konnte, wie es ihr beliebte … Zwischen den Pfützen lief sie schnell durch den kleinen Garten und dann die Außentreppe empor, auf die heftiger Regen niederprasselte. Im Vorzimmer stampfte sie ein-, zweimal mit den Füßen auf und ging, nachdem sie sich die Schuhe abgestreift hatte, in den Salon.
    Es war düster. Die Villa des Charmes wirkte trostlos, sobald man die Fenster schloß. Einen Augenblick später kam auch Monsieur Mesurat herein. Er keuchte.
    »Sie hatten keine Zeit, das ganze Programm zu spielen«, erklärte er Germaine, die immer noch ausgestreckt auf dem Kanapee lag. »Nur eine Ouvertüre und dann den Marsch, du weißt schon…«
    Er trällerte den Marsch vor sich hin.
    Adrienne ging hinter ihm vorbei und zuckte die Achseln, während sie gleichzeitig die Augen zur Decke erhob.
    »Viele Leute?« fragte Germaine.
    »Bis auf den letzten Platz besetzt«, antwortete Monsieur Mesurat. »Ein Erfolg!«
    »Wir haben Madame Legras kennengelernt«, sagte Adrienne, die einfach von ihrer neuen Freundin sprechen mußte, wie um gegen die Traurigkeit, die Langeweile anzukämpfen, die auf diesem Raum lasteten. Sie nahm ihren Hut ab, zog die Handschuhe aus, die naß an ihren Fingern klebten, und legte alles auf das runde Tischchen.
    »Ja«, brummte der Alte und drehte sich zu ihr. »Eine eitle Person, was?«
    Adrienne errötete.
    »Weil sie gut gekleidet ist? Ich finde nicht.«
    »Schon möglich«, antwortete er beleidigt, weil sie nicht seiner Meinung war, »aber ich finde es.«
    Dann setzte er sich in seinen Lehnstuhl.
    »Keiner weiß, was ihr Ehemann treibt«, fuhr er fort. »Ich habe mir sagen lassen, sie sind reich.«
    »Reich«, wiederholte Germaine wie ein Echo.
    »Ja, aber ohne daß man wüßte, woher das Geld kommt«, sagte der Alte mit erhobenem Zeigefinger.
    Adrienne nahm Hut und Handschuhe wieder an sich und ging hinaus. Dieser Klatsch mißfiel ihr, und sie bedauerte, Madame Legras' Namen vor ihrem Vater und ihrer Schwester ausgesprochen zu haben. Als sie den Salon verließ, spürte sie eine nahezu körperliche Erleichterung. Plötzlich bekam sie Lust, wie ein Kind umherzuhüpfen, und schwungvoll lief sie in ihr Zimmer hinauf, um sich von ihrem Fenster aus die Villa anzuschauen, die sie am nächsten Tag betreten sollte. Schlagartig wurde sie froh und dankte dem Schicksal, daß sie wenigstens ein Zimmer hatte, in dem sie Zuflucht suchen konnte – um allein zu sein, Selbstgespräche über ihre Pläne, ihre Hoffnungen zu führen und nun auch jenes unerklärliche Glücksgefühl zu verbergen, das sie so unversehens gepackt hatte.
    Sie schloß die Tür, setzte sich ans Fenster und zog einen Vorhang zur Seite. Es goß in Strömen, und der Himmel wurde immer dunkler. Schmutziges Wasser rann neben den Bürgersteigen dahin, deren Pflaster glänzte; das eintönige Rauschen des Regens erfüllte die Straße.
    Nach einigen Minuten hörte Adrienne einen Wagen von der Stadt herankommen, und fast gleichzeitig sah sie, wie eine Droschke in die Straße einbog und vor der Villa Louise hielt. Das große Lederverdeck war zugeklappt und schimmerte naß, und nur ganz flüchtig erblickte das junge Mädchen seine neue Freundin, die ausstieg und zu ihrem Haus hineilte, nachdem sie dem Kutscher etwas zugerufen hatte, was Adrienne nicht verstand. Das Gartentor öffnete und schloß sich geräuschvoll, dann lief Madame Legras zur Außentreppe, hastete hinauf, so schnell es ihre dicken Beine erlaubten, und läutete mehrere Male an der Tür. Lautes Kläffen drang aus dem Inneren des Hauses; endlich ging die Tür auf, und Madame Legras verschwand.
    Das alles dauerte nur einen Augenblick. Der Wagen hatte bereits gewendet und fuhr stadteinwärts davon. Langsam löste Adrienne ihre Finger von dem Vorhang, den sie noch immer festhielt, und ließ ihn wieder zufallen, dann verlor sie sich in ihren Gedanken. Diese Unabhängigkeit, die ihre Nachbarin besaß … Einen Wagen nehmen, tun können, was sie wollte. Sie

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