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Adrienne Mesurat

Adrienne Mesurat

Titel: Adrienne Mesurat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julien Green
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blickte neugierig und zufrieden um sich.
    Das Stück ging in einem Beifallssturm zu Ende, der Adrienne aufschrecken ließ. Auf einmal spürte sie, wie eine Hand sanft, aber bestimmend die ihre drückte, und als sie sich ein wenig umwandte, begegnete sie dem Blick von Madame Legras, die sie aufmerksam beobachtete.
    »Was ist denn«, fragte sie halblaut, »bringt die Musik Sie zum Weinen?«
    »Ich habe es gar nicht gemerkt«, antwortete Adrienne und bemühte sich zu lächeln. Sie wollte ihre Hand wegziehen, aber Madame Legras hielt sie so fest umklammert, daß es nicht möglich war, ohne unfreundlich zu wirken.
    »Was für ein Stück war das?« fragte sie.
    »Ich weiß nicht«, sagte Madame Legras. »Irgendeine Weiße Dame. Wissen Sie was, Sie kommen nachher zum Fünfuhrtee mit zu mir«, fuhr sie in ernstem und zugleich schmeichelndem Ton fort. »Wir sind doch Nachbarinnen, wir müssen uns kennenlernen.«
    Adrienne errötete vor Freude. Mit einemmal hatte sie das Gefühl, dieses eben gehörte Stück sei so etwas wie die wunderbare Verkündigung eines neuen Lebens. Warum sonst wäre sie so ergriffen gewesen? Diese nahezu unbekannte Frau, die sie plötzlich zu sich einlud, in dieses Haus, das sie schon so lange sehnlichst zu betreten wünschte – war das nicht ein Zeichen? Sie war nahe daran zu fragen, ob man denn von der Villa Louise aus jene Räume des weißen Hauses sehen konnte, die auf die Rue Carnot gingen, und wollte sich schon mit vor Dankbarkeit strahlenden Augen Madame Legras zuwenden, um die Einladung anzunehmen, als sie an ihre Schwester dachte. Mußte sie sich nicht versichern, daß alles für ihre Abreise fertig war? Eine Winzigkeit konnte alles zum Scheitern bringen.
    »Heute kann ich nicht«, sagte sie.
    »Warum nicht?« fragte Madame Legras.
    Ihr Blick wurde fast ein wenig argwöhnisch, als gebe ihr die Tatsache, Adrienne seit fünf Minuten zu kennen, das Recht, in deren Geheimnisse eingeweiht zu werden. Das junge Mädchen schüttelte den Kopf.
    »Ein andermal, Madame, mit Vergnügen.«
    »Kommen Sie morgen.«
    »Ja, morgen.«
    Auf einmal fragte sie sich, wie dieser morgige Tag sein würde, wie Monsieur Mesurat sich verhalten würde angesichts von Germaines Verschwinden, doch sie hatte nicht den Mut, bei diesem Gedanken zu verweilen. Vorläufig fühlte sie sich in Sicherheit, beinahe glücklich. Mußte das nicht genügen? Die Unannehmlichkeiten würden noch früh genug kommen, ohne daß sie ihnen geradezu entgegenlaufen mußte. Sie fürchtete nur, der Vater könnte ihr Gespräch mit Madame Legras gehört haben. Wenn er Schwierigkeiten machen, sie morgen daran hindern würde, in die Villa Louise zu gehen? Aber er schien das Gespräch der beiden Frauen nicht gehört zu haben und las in einem Programm, das er vom Boden aufgehoben hatte. Adrienne beugte sich zu ihrer Nachbarin.
    »Sagen Sie meinem Vater nichts davon«, flüsterte sie.
    Und da Madame Legras' Gesicht Verwunderung ausdrückte, fügte sie schnell hinzu:
    »Ich erkläre es Ihnen später.«
    Ein quäkendes Durcheinander von Tönen machte dieser Unterhaltung ein Ende. Die Musiker stimmten ihre Instrumente; nach einer kurzen Stille setzte unvermittelt ein pompöser, ohrenbetäubender Marsch ein. Mit unbeschreiblichem Ekel erkannte Adrienne die Melodie, die ihr Vater so oft vor sich hin summte und die er jetzt mit schüchternen, kleinen Kopfbewegungen begleitete; und von einer jähen Gereiztheit gepackt, umklammerte sie mit aller Kraft den Verschluß ihres Handtäschchens. Dieser dumme und häßliche Marsch, der die Augen der ringsum Sitzenden aufleuchten ließ, das war ihr gegenwärtiges Leben. Ihr schien, sie höre Monsieur Mesurat die Lampe ausblasen und dann, während er in seinen Bart pfiff, mit trägem Schritt die Treppe heraufsteigen. Ihr graute vor sich selbst, und sie erschauerte, wie von einer plötzlichen Übelkeit befallen.
    Mitten im donnernden Applaus hörte sie die ruhige Stimme von Madame Legras:
    »Was für eine alberne Musik!«
    Am liebsten hätte sie ihre Hand ergriffen, getraute sich aber nicht. Währenddessen fielen Tropfen auf die Bäume. Einige der Zuhörer spannten ihre Schirme auf. Viele erhoben sich unentschlossen und warfen fragende Blicke zu den Musikern hinüber, die sich untereinander beredeten. Dann wurde der Regen ganz plötzlich dichter, und eine allgemeine Drängelei brach aus. Manche Leute kletterten die Stufen zum Musikpavillon hoch, andere flüchteten sich unter die Bäume. Monsieur Mesurat faßte seine Tochter

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