Adrienne Mesurat
preßte die Stirn gegen das Fenster; durch die Maschen des Vorhangs hindurch sah sie im Dämmerlicht die weißen Wände des Hauses, in dem Maurecourt wohnte, und über dem Schieferdach den schwarzen Wipfel des jungen Baumes, der unbewegt im Regen stand. Unten im Salon sprach Monsieur Mesurat mit Germaine, und das undeutliche Gemurmel seiner Stimme erreichte Adriennes Ohr. Sie wurde traurig, auf dieselbe Weise, wie sie sich kurz zuvor mit einemmal glücklich gefühlt hatte. Und ihre Fröhlichkeit verflog so plötzlich, wie sie gekommen war.
Nach dem Abendessen sank die Temperatur so stark, daß Germaine bat, man möge doch ein Bündel Reisig im Kamin anzünden. Nur dann könne sie im Salon bleiben. Erst murrte ihr Vater ein wenig, entrüstet über die Vorstellung, Anfang Juni ein Feuer anzufachen, doch schließlich gab er zu, daß es nicht gerade warm war, und übernahm es selbst, im Kamin die noch grünen Zweige aufzuschichten. Vor allem anderen fürchtete er nämlich, daß seine Kartenpartie ausfallen könnte. Sicher kam dieses Feuer ihm lachhaft, ungeheuerlich vor, er war jedoch bereit, gegen die Gepflogenheiten zu verstoßen, um nicht eine Gewohnheit opfern zu müssen, die ihm immer unverzichtbarer wurde. Sein Trente-et-un beendete, krönte den Tag. Danach konnte er die Lampe ausblasen und sich sagen, daß sein Tagewerk vollbracht war; er konnte schlafen.
Während er vor der Kaminklappe kauerte, mischte Adrienne, die Arme auf das runde Tischchen gestützt, stumm die Karten. Neben ihr wartete die Schwester halb liegend in einem Lehnsessel und verfolgte mit fiebrigem und gedankenversunkenem Blick Adriennes Bewegungen. Sie war in einen weiten gestrickten Wollumhang gehüllt und hatte sich außerdem noch eine Sergejacke über die Schultern geworfen, deren Ärmel auf die Armlehnen ihres Sessels herabhingen. Ihr rotglühendes Gesicht drückte eine quälende geistige Anspannung aus. Als Monsieur Mesurat die Kaminklappe geräuschvoll auf- und zumachte, nutzte sie die Gelegenheit, um sich zu Adrienne zu beugen und halblaut zu fragen:
»Hast du die Briefe eingeworfen?«
Das junge Mädchen nickte. Germaine schloß erleichtert die Augen. Ein paar Minuten vergingen. Dann stand Monsieur Mesurat auf und schob mit der Spitze seines Fußes, der in einem Pantoffel steckte, die Kaminklappe wieder hoch. Ein fröhliches Licht mit tanzendem Widerschein erhellte das Zimmer. Die Zweige krümmten sich in den Flammen. Germaine schlug die Augen auf. Ihr Blick begegnete dem des alten Mannes, der sie, von der Anstrengung leicht gerötet, beobachtete; dann klatschte er in die Hände.
»Bist du zufrieden?« fragte er.
Sie hauchte »Ja« und richtete sich ein wenig auf. Ihre knochigen Hände griffen nach den Karten, die ihre Schwester einzeln vor sie hinwarf.
Monsieur Mesurat blickte noch eine Weile in die Flammen, dann schien ihm auf einmal etwas einzufallen.
»Adrienne«, fragte er, »wo hast du deine Schuhe hingestellt?«
»In die Küche, neben deine, damit sie schneller trocknen«, antwortete das junge Mädchen.
Er ging hinaus. Germaine folgte ihm mit den Augen bis zur Tür, dann wandte sie den Kopf ihrer Schwester zu.
»Adrienne«, sagte sie tonlos.
Adrienne hörte mit dem Kartengeben auf.
»Was willst du?« fragte sie.
Der Ausdruck, den sie auf den Gesichtszügen der Kranken sah, überraschte sie. Ihr war, als lächle sie. Etwas in ihren Augen wirkte verändert.
»Was willst du, Germaine?« wiederholte sie.
Germaine streckte eine Hand aus, doch Adrienne griff nicht nach ihr.
»Ich gehe fort, Adrienne«, sagte sie mit stockender Stimme. »Und ich komme nicht wieder.«
Sie wischte sich mit ihrem Taschentuch über die Lippen und fügte, während sie den Kopf ein wenig senkte, hinzu:
»Niemals. Jetzt ist Schluß. Schluß…«
Und plötzlich ließ sie sich vornüber fallen, mit dem Gesicht auf die vor ihr verstreut liegenden Karten, und begann, haltlos zu weinen. Adrienne sprang auf.
»Was hast du, Germaine?« stammelte sie.
Ängstlich berührte sie mit den Fingerspitzen ihre Schultern, die immer wieder von Schluchzen geschüttelt wurden. Aber Germaine konnte sich nicht beherrschen.
»Sei still«, flehte das junge Mädchen. »Papa wird gleich wieder da sein.«
Und tatsächlich kamen Monsieur Mesurats Schritte den Flur, der zur Küche führte, langsam zurück. Germaine richtete sich ein wenig auf und biß in ihr Taschentuch, das sie zu einem Knäuel zusammengeknüllt hatte. So gelang es ihr, die Tränen zu bezwingen; die
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