Adrienne Mesurat
nächsten Morgen wurde sie früh durch ein Klopfen an ihrer Tür geweckt. Sie sprang aus dem Bett und machte auf. Es war Germaine. Ihr Gesicht war erschreckend mager, und ihre dunkel umrandeten Augen verrieten eine schlaflose Nacht.
»Gehst du?« fragte Adrienne.
»Ich gehe«, sagte Germaine mit entschlossener Stimme. »Gib mir den Schlüssel.«
Sie war ganz in Schwarz gekleidet und schleppte mühsam einen vollgestopften kleinen Koffer. Unter ihrem viel zu großen Hut wirkte sie lächerlich. Sie fing Adriennes Blick auf und sagte:
»Ja, ich habe einen deiner Hüte genommen. Meine sind zu alt.«
Irgend etwas machte sie verlegen. Sie stellte ihren Koffer nieder und lehnte sich an den Türrahmen, während Adrienne den Schlüssel holen ging.
»Danke«, sagte Germaine, als sie den Schlüssel nahm. »Es ist Viertel vor sechs. Ich werde unten warten.«
Adrienne nickte. Sie konnte diese besorgte und zugleich ernste Art nicht leiden, mit der ihre Schwester sie anstarrte. Plötzlich stammelte Germaine:
»Auf Wiedersehen, Adrienne.«
»Auf Wiedersehen.«
Aber Germaine ging nicht. Mit einem Ausdruck von Verzweiflung blickte sie in Adriennes betretenes Gesicht.
»Schreibst du mir?« fragte sie.
Das junge Mädchen zuckte die Schultern. Auf einmal breitete Germaine die Arme aus; ihre Lippen zitterten und Tränen glänzten in ihren Augen, doch Adrienne wich entsetzt ins Zimmer zurück. Wortlos griff Germaine nach ihrem Koffer und ging, an der Wand Halt suchend, die Treppe hinunter.
Adrienne legte sich sofort wieder ins Bett. Sie hörte, wie ihre Schwester die Tür zum Eßzimmer öffnete und dann leise hinter sich schloß.
Es regnete. Die Tropfen schlugen fast lautlos gegen die Scheiben. Adrienne zog sich das Laken bis an den Mund und dachte nach, die Augen zur Decke gerichtet.
Nun tat es ihr leid, daß sie Germaine nicht umarmt hatte, oder vielmehr, daß sie es nicht fertiggebracht hatte, sie zu umarmen, denn als sie die Arme gesehen hatte, die sich ihr entgegenstreckten, war sie unter einem Gefühl unbezwingbaren Abscheus in ihr Zimmer zurückgetreten. Vielleicht genügte tatsächlich ein Kuß, um die Krankheit, an der ihre Schwester litt, zu übertragen. Gewiß, Germaine hatte ihr versichert, sie sei nicht ansteckend, aber redeten so nicht alle Kranken?
Jetzt fühlte Adrienne sich vollkommen wach. Angst stieg in ihr hoch. Wenn ihr Vater nun ein wenig früher als sonst aufstand, ins Eßzimmer hinunterging und dort seine Tochter reisefertig vorfand? Aber das war unmöglich. Es war höchstens zu befürchten, daß er hörte, wie der Wagen an der Straßenecke hielt. Und was würde er schon tun können? Sie verjagte diese Gedanken aus ihrem Kopf und machte Pläne für den anbrechenden Tag. Am Vormittag wollte sie in das Zimmer ihrer Schwester hinaufgehen und am Nachmittag Madame Legras besuchen.
Es schlug sechs. Wieder fragte sie sich, wie Monsieur Mesurat die Nachricht vom Verschwinden seiner Tochter aufnehmen würde. Nachdem sie einen Augenblick überlegt hatte, beschloß sie, die Unwissende zu spielen und ihn alles alleine entdecken zu lassen. Wenn sie sich die Bestürzung des Alten vorstellte, konnte sie nicht anders, als still in sich hineinzulachen, und sie verbarg ihr Gesicht unter dem Bettlaken, als fürchtete sie, jemand könne sie überraschen.
Plötzlich hörte sie, wie eine Tür behutsam geöffnet wurde. Es war Germaine, die das Eßzimmer verließ. Sie ging durch den Salon und anschließend den Flur entlang. »Wie unvorsichtig«, dachte das junge Mädchen, »sie zieht die Füße nach.« Ein paar Sekunden später wurde eine andere Tür geöffnet und wieder geschlossen. Jetzt konnte Adrienne die zögernden Schritte ihrer Schwester vernehmen, die über den Gartenweg schlich. Ihr Herz begann wild zu pochen. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, aufzuspringen und ans Fenster zu laufen. Germaine war am Ende des Weges angekommen. Sie stand am Gartentor und beugte sich ein wenig vor. Ihr Koffer und der aufgespannte Regenschirm lagen zu ihren Füßen und drückten eine rosarote Geranie nieder. Sie beugte sich ein wenig mehr nach vorn; in ihrem schwarzen Kleid und mit dem gekrümmten Rücken erinnerte sie an ein Insekt. Ihre Arme bewegten sich. Endlich hörte Adrienne das Knirschen des Schlüssels, der sich im Schloß drehte, und unwillkürlich hielt sie sich die Ohren zu. Wie war es nur möglich, daß ihr Vater dieses Geräusch nicht hörte? Doch Germaine öffnete das Tor, hob ihren Koffer, ihren Schirm auf
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