Adrienne Mesurat
Furcht, sie könnte den Argwohn ihres Vaters wecken und dadurch ihre Flucht zum Scheitern bringen, beruhigte sie schließlich vollends. Adrienne setzte sich wieder und fuhr mit dem Austeilen der Karten fort.
»Hier«, sagte Monsieur Mesurat, als er eintrat. »Sie sind durch und durch naß. In der Küche wären sie nie trocken geworden.«
In jeder Hand hielt er ein Paar Schuhe, die er sorgfältig, mit den Spitzen nach außen, vor das Feuer stellte. Adrienne und Germaine beobachteten ihn verstohlen, und in ihren Augen schimmerte derselbe Blick, eine Mischung aus Neugier und Ekel. Er hockte vor den Flammen und so lächerlich, wie er aussah, erinnerte er in abstoßender Weise an ein kleines Kind, das seine Sandkuchen aneinanderreiht. Das junge Mädchen spürte, wie es schamrot wurde, und schlug die Augen nieder, Germaine jedoch wandte den Kopf nicht ab.
»Laß doch, Papa«, rief Adrienne schließlich und klopfte mit ihren Karten auf das Tischchen, »sie stehen gut so. Komm spielen.«
Er stand auf, indem er sich mit einer Hand auf den Teppich stützte, und rückte seinen Sessel an den Tisch.
»Wer fängt an?« fragte er.
Er setzte sich, nahm seine Karten in die Hand und betrachtete sie prüfend.
»Ich«, antwortete Adrienne.
Sie warf eine Karte auf den Tisch. Germaine legte eine darüber. Dann ließ Monsieur Mesurat eine dritte Karte mit dumpfem Klang auf die beiden vorangegangenen fallen. Bis zum Ende der Partie brach niemand das Schweigen.
Adrienne schlief schlecht, obwohl sie todmüde war.
Sie hatte es geschafft, sich in das Zimmer ihres Vaters zu schleichen und den Schlüssel aus seiner Rocktasche zu nehmen, ein leichtes Unterfangen, denn der Alte fiel immer sehr schnell in einen tiefen Schlaf, aber die panische Angst, ihn zu wecken, weil sie gegen ein Möbel stieß, ihn schreien zu hören, entdeckt zu werden, trieb der jungen Frau Schweißperlen aufs Gesicht, und zitternd erreichte sie ihr Zimmer, von einer Aufregung überwältigt, die ihr jede Kraft raubte. Sie entkleidete sich im Dunkeln und warf sich auf ihr Bett.
Nachdem sie ein paar Minuten geschlummert hatte, wachte sie plötzlich auf, als habe jemand sie an der Schulter berührt und gesagt: »Na los, mach die Augen auf und denk nach, denk nach.« Sie wälzte sich in ihrem Bett hin und her und suchte auf ihrem Kissen eine Stelle, die das Gewicht ihres Kopfes noch nicht zerdrückt hatte. Aber vergebens mühte sie sich, ihre quälenden Gedanken abzuschütteln. Ihr unruhiger Schlaf dauerte nicht lange.
Die bevorstehenden Ereignisse zwangen sie, zu den Wochen zurückzukehren, die gerade hinter ihr lagen. Sie verspürte das Bedürfnis, auf diese Weise Vergangenheit und Zukunft miteinander zu verknüpfen, und hoffte, wenn sie sich nur an alles erinnerte, was ihr zuletzt an Gutem und Verdrießlichem zugestoßen war, würde sie durch eine geheimnisvolle Logik vielleicht herausfinden, was künftige Zeiten ihr noch vorbehielten. Welchen Platz nahm ihre Liebe in ihrem Leben ein? Hatte sie etwas Nennenswertes darin verändert? Zunächst war sie versucht, auf diese Frage, die sie sich selbst stellte, mit »Nein« zu antworten, doch fast augenblicklich fiel ihr ein, daß sie Germaine nicht mit solchem Eifer bei ihren Fluchtvorbereitungen unterstützt hätte, wenn sie sich nicht sehnlichst deren Zimmer wünschte. Und warum wollte sie dieses Zimmer? Dann kam ihr Madame Legras in den Sinn. Wie ein kleines Mädchen war sie vor der fülligen Dame errötet, hatte mit aller Liebenswürdigkeit, deren sie fähig war, zu ihr gesprochen. Morgen würde sie sie besuchen. Warum? In welcher Hoffnung? Sie wagte nicht einmal, es sich selber einzugestehen. Auch darin sah sie einen Beweis für ihre Liebe.
Danach wanderten ihre Gedanken zum eigentlichen Gegenstand ihrer Leidenschaft, zu demjenigen, der sie, ohne es zu wollen, ohne es zu wissen, unglücklich machte. Ihr schien, daß sie seit einiger Zeit weniger litt. Vielleicht weil sie ihn seit jenem Tag, an dem sie sich die Arme zerschnitten hatte, nicht mehr gesehen hatte. Aber warum trachtete sie dann überhaupt danach, ihn wiederzusehen, warum überwachte sie die Straße den lieben, langen Tag? Und könnte sie nicht schließlich vollkommen geheilt werden, wenn sie ihn nie mehr wiedersähe? Dieser Gedanke jedoch rührte sie zu Tränen. Während sie sich am Bettlaken die Augen trocknete, sagte sie sich: »Manche haben Krankheiten, ich bin verliebt, da ist nichts zu machen.« Und weinend schlief sie am Ende doch ein.
Am
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